8.12.2023
Arbeit
Das Wirtschaftsarchiv bewahrt die Erinnerung an die arbeitenden Menschen in Vorarlberg
Bildung,Geschichte,Gesellschaft,Interessenvertretung,Kultur,Kunst,Politik,Solidarität,Sozialpartnerschaft,Wissen
Das Wirtschaftsarchiv Vorarlberg feiert seinen 40. Geburtstag. Seit März 2011 zählt die AK zu den Trägern, denn das wirtschaftliche Gedächtnis des Landes ist in dieser Form nicht nur einzigartig in ganz Österreich. Es erzählt und bewahrt vor allem die Geschichte der arbeitenden Menschen.
In diesem Beitrag
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Uralte Skier lehnen an der Wand, dicke Folianten liegen griffbereit. Ein Stehpult ächzt unter der Last der Bücher. Das ist Gerhard Siegls Reich. Der 48-jährige Innsbrucker Historiker und zweifache Familienvater leitet das Vorarlberger Wirtschaftsarchiv seit 2019, seit Christian Feurstein die Geschäftsführung übergeben hat. Am Gewölbe im Feldkircher Palais Liechtenstein gehen Menschen achtlos vorbei. Dass hier die Wirtschaftsgeschichte des Landes schlummert, ahnen sie nicht. Das heißt, schlummern trifft es kein bisschen. Denn das Archiv ist rege, sehr sogar…
Zum Jubiläum ein Buch: Der Focus auf krisenhafte Zeiten fügt sich gut in unsere Tage. © Gerhard Siegl, Wirtschaftsarchiv Vorarlberg
Ein Buch zum Geburtstag
Szenenwechsel: Im Montfortsaal des Vorarlbeger Landhauses in Bregenz haben sich Festgäste herausgeputzt. Zum 40. Geburtstag machen Gerhard Siegl, Wolfgang Meixner und Patrick Kupper dem Wirtschaftsarchiv ein würdiges Geschenk: Sie präsentieren die bereits 115. Publikation des Wirtschaftsarchivs Vorarlberg. Gemeinsam mit der Universität Innsbruck geben sie die „Regionale Wirtschafts- und Sozialgeschichte im Zeitalter globaler Krisen“ heraus. Das Buch ist in der Reihe „Sozial- und wirtschaftshistorische Studien“ erschienen.
Aber "Krise" zum Geburtstag? Warum nicht, schließlich hat die Vorarlberger Wirtschaft nicht nur grandiose Zeiten hinter sich. Und oft genug haben es die Arbeiter:innen und deren Familien hautnah als erste erfahren, wenn die Zeiten schlechter wurden. So wirkt das Wirtschaftsarchiv zu seinem Vierziger brandaktuell.
Wie kam es überhaupt dazu, dass sich die Wirtschaft im äußersten Westen Österreichs ein bleibendes Gedächtnis schuf?
Auch das Stehpult gehört zum Archiv im Gewölbe des Palais Liechtenstein. © Thoams Matt, AK Vorarlberg
Tonnenweisen Akten auf der Staße
Als Wolfgang Ilg (damals WKV) und Josef Feurstein (damals IV) sich 1983 anschickten, ein Wirtschaftsarchiv zu etablieren, erlebte das Ländle turbulente Zeiten. Schlagzeilen über die Schließung großer Textilunternehmen waren an der Tagesordnung. An die klingenden Namen erinnern heute nur mehr die Gewerbeparks, die auf vielen früheren Fabrikarealen entstanden sind.
Joe Feurstein hat den Moment noch gut in Erinnerung, als er quasi am Sterbebett eines solchen Textilriesen mitansehen musste, wie tonnenweise Aktenordner einfach auf der Staße landeten. Er klaubte eines der Bücher vom Pflaster, es war der Buchhaltung entnommen. "Das alles war gestern noch unendlich wichtig und heute…" In ihm reifte der Entschluss, der Schnelllebigkeit des Strukturwandels wichtige Zeitzeugen zu entreißen. So schlug die Gerburtsstunde des Wirtschaftsarchivs, an dessen Wiege Interessensvertreter, Historiker wie Gerhard Wanner und Pädagogen wie Hans Sperandio standen.
Was geschieht in diesem Archiv? Gesammelt werden nicht nur schriftliche Unterlagen, sondern auch Fotos, Werbematerial, Pläne und Gegenstände. Zu einem Schwerpunkt entwickelte sich ab den 1990er Jahren historisches Grafikdesign. Der 1995 vom Verein herausgegebene Bildband „Schaulust – Vorarlbergs Wirtschaft im Plakat 1895 bis 1965“ stand am Anfang dieses Sammlungsgebiets.
Oral history: Zeitzeugen erinnern sich
Um persönliche Erinnerungen für zukünftige Generationen zu dokumentieren, wurde 1997 damit begonnen, Zeitzeugen nach wissenschaftlichen Kriterien zu interviewen. Zunächst konzipiert von Geschäftsführer Rupert Tiefenthaler, wurde das Projekt viele Jahre lang von Archivmitarbeiterin Mag. Annette Bleyle organisiert. Die Interviews führten sowohl die Archivangestellten selbst als auch freie Mitarbeiter. 2010 übernahm Karoline Thurnher die Leitung des Projekts und führt dieses seither gemeinsam mit Gerti Furrer durch.
Wer kommt zum Zug? Die Bandbreite an Interviewpartnern reicht von Wirtschagftskapitänen über Beschäftigte, erste Gastarbeiter, bis hin zu Politikern und Interessensvertretern. Zur Verfügung stellten sich Personen wie etwa der Unternehmer und IV-Präsident KR Helmut Warnecke, Schiliftpionier KR Dipl.-Ing. Arthur Doppelmayr, Landtagsabgeordneter und Gewerkschafter Karl Falschlunger, die NS-Zwangsarbeiterin Paraska Benzer, Lebensmittelhändler Johann Mraz, Otten-Textil-arbeiterin Mathilde Lacher oder die vor kurzemn verstorbene Speditionsunternehmerin Dkfm. Heidegunde Senger-Weiss.
Mehr in "Schaulust: Die schönsten Plakate der Vorarlberger Wirtschaft 1890-1960" © Repro, Wirtschaftsarchiv
700 Laufmeter Archivalien
Die mittlerweile rund 700 Laufmeter Archivalien sind im Tiefenspeicher der Stadt Feldkirch fachgerecht gelagert. Darüber hinaus befinden sich dort elf Planschränke zur Lagerung großformatiger Grafiken. Die Bestände des Wirtschaftsarchivs Vorarlberg stehen für die wissenschaftliche Nutzung frei zur Verfügung. Täglich beantwortet Gerhard Siegel Anfragen. Besucher:innen können nach Terminabsprache entsprechende Findmittel im Büro im Palais Liechtenstein einsehen. Danach werden die vom Benutzer gewünschten Archivalien im Tie-fenspeicher ausgehoben. Ein Teil der Bestände, insbesondere aus dem grafischen Sammlungsgebiet, ist bereits online zu-gänglich.
Eigenständiger Verein
Heute besteht das einzige regionale Wirtschaftsarchiv Österreichs als eigenständiger Verein mit einem ehrenamtlich tätigen Vorstand unter dem Vorsitz des Historikers Arno Fitz sowie seinen Stellvertretern Friederike Hehle (historizing. Agentur für Geschichte) und Karlheinz Kindler (IV). Zum Vorstand zählen Karl Huber (Mohrenbrauerei), Petra Kreuzer (WKV), Thomas Matt (AK), Rupert Tiefenthaler (FL-Landesarchiv) und Christoph Volaucnik (Stadtarchiv Feldkirch).
Der Einstieg erfolgt über die Internetseite des Wirtschaftsarchivs Vorarlberg www.wirtschaftsarchiv-v.at.
Mit der AK als guter Partner
Die AK Vorarlberg ist im Wirtschaftsarchiv engagiert, vor allem aber trägt sie viel dazu bei, dass die Beschäftigten mit ihren Sorgen alleine dastehen. Du brauchst Beratung oder hast eine Frage? Unsere Expert:innen sind für dich da. Schreibe uns einfach, wir melden uns bei dir.
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