23. April 2021
Arbeit
Den Arbeitenden eine Stimme
Arbeit,Gesellschaft,Mitbestimmung
Vor 100 Jahren hoben die Beschäftigten in Vorarlberg in der ersten AK-Wahl ihre persönliche Standesvertretung aus der Taufe. Sozialreformen der Ersten Republik schufen gegen alle Widerstände die Basis für eine unabhängige selbstverwaltete Arbeiterkammer.
Inhaltsverzeichnis
Die goldenen Zwanzigerjahre in Vorarlberg – Charleston, Schampus, Federboa? Nein, aber ein Kilo Butter gab’s für 62.000 Kronen am Feldkircher Wochenmarkt. Und jede Menge Hunger. Und Lebensmittelkarten. Und Aufruhr. Als Ende Juni 1918 die Brotkarte um die Hälfte gekürzt wird, zieht die Arbeiterschaft wütend vor das Dornbirner Rathaus. Die noch nicht stillgelegten Fabriken streiken im ganzen Land. Die Arbeiter fordern erschwingliche Lebensmittel oder mehr Lohn. Die Unternehmer erfüllen die Forderung kaum. Auch jene nicht, die am Krieg gut verdient haben.
Es ist diese hungernde, frierende, kriegsmüde Arbeitnehmerschaft, die im Feuerschein der untergehenden Monarchie bereits Schattenrisse schwerer sozialer Kämpfe erkennen lässt. In diesen brisanten Tagen gelingt es, in der Verfassung der ersten Republik auch Arbeiterkammern zu verankern. Gewerkschafter geben den Anstoß, Handelskammern gibt es ja längst. Der Feldkircher Fabrikant Carl Ganahl etwa hat schon in den 1850er-Jahren dafür gesorgt, dass das gerade entstehende Land Vorarlberg eine Unternehmervertretung bekommt. Und nun eine Arbeitnehmervertretung auf Augenhöhe? Die Premiere findet am 23. und 24. April 1921 statt. Vorarlbergs Arbeiterinnen, Arbeiter und Angestellte sind zum ersten Mal aufgerufen, ihre eigene Arbeiterkammer zu wählen.
Lieferwagen mit Karosserieaufbau aus der Werkstatt des späteren Skiherstellers Anton Kästle, 1920er Jahre. © Wirtschaftsarchiv Vorarlberg
Kampf ums nackte Überleben
Der Bregenzer Historiker Meinrad Pichler schildert dieses Jahr 1921 als ein „Jahr der wirtschaftlichen Stabilisierung“. Gleichzeitig aber tobten Kämpfe zwischen Bauern und Arbeitern. Es ging ums nackte Überleben.
Der erste Weltkrieg hatte Vorarlberg an die 5000 Gefallene beschert. Das Land hungerte. Konsumierte ein Österreicher vor Kriegsbeginn 1914 im Schnitt noch 145 Kilogramm Mehl pro Jahr, so standen ihm 1917/18 nur mehr 65 Kilogramm zur Verfügung. Der Ernteertrag von 1919 hatte sich im Vergleich zu 1913 in etwa halbiert. Erste Sozialgesetze, etwa die Arbeitslosenunterstützung für Industriearbeiter und Angestellte, versuchten die ärgste Not abzufedern. Lebensmittelkarten sicherten mehr schlecht als recht das Überleben. Die Bauern aber wollten endlich wieder am freien Markt verkaufen und höhere Preise erzielen. „Bis zum Sommer 1921 durften selbst die Grenzgänger nur eine Jause für den eigenen Bedarf mit in die Schweiz nehmen, damit sie nur ja nicht Butter oder Milch drüben verkauften.“ Das alles hört laut Pichler 1921 auf. Im Frühjahr Land beginnt das Land aufzuatmen. Aber es wird eine holprige Auferstehung.
Werbemotiv der Destillerie Sagmeister in Bregenz, 1920er Jahre. © Wirtschaftsarchiv Vorarlberg
Es gab Arbeit in der Industrie
Die Voraussetzungen waren nicht schlecht. „Vorarlbergs Industrie war im Krieg nicht beschädigt, praktisch nichts auf Kriegswirtschaft umgestellt worden“, erzählt Pichler. „Zudem hatten viele Vorarlberger Unternehmer in den guten Konjunkturjahren Geld in die Schweiz geschafft.“ Das kam ihnen nun zugute. „Sie konnten Rohwaren mit Franken bezahlen.“ Die Folge: „Im Spinnereiwesen erreichten Vorarlbergs Betriebe bereits 1923 wieder den Stand der Vorkriegszeit.“ Das war die gute Seite.
Konsumgeschäft in Dornbirn Oberdorf um 1920. © Stadtarchiv Dornbirn
Ein Ei für 2700 Kronen
Doch im Herbst 1921 schlägt die Hyperinflation zu. In nur einem Jahr steigt das Preisniveau etwa im gleichen Ausmaß an wie in den sieben vorangegangenen Jahren zusammen. 1925 kostet am Feldkircher Wochenmarkt ein Kilo Butter besagte 62.000 Kronen, für ein Ei bezahlt man 2700, für ein Kilo Kartoffeln 2400 Kronen.
Dies war auch die Zeit einer großen Entfremdung. „Je weiter sich die österreichische Republik von den Tagen 1918/1919 entfernt hat, umso unwilliger gebärdeten sich die Unternehmer, die Sozialgesetze dieser Jahre anzuerkennen.“ Die Angst vor dem Bolschewismus ging um, auch in Vorarlberg.
HIlfe, die Bolschewiken!
Den etwa 5000 aus Russland heimgekehrten Soldaten schlug Misstrauen entgegen. „Der allgegenwärtige Antisemitismus war eine Pest in dieser ersten Republik.“ Den Supergau in der Vorstellung eines Christlichsozialen der 1920er Jahre beschreibt Meinrad Pichler so: „Ein jüdischer Bolschewik aus Wien, der den Vorarlbergern etwas wegnehmen will…“
Und so mischen sich von allen Seiten hässliche Töne in den ersten AK-Wahlkampf, den letztendlich die Sozialdemokraten für sich entscheiden.
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Ein Tisch und ein paar Sessel
Der Eisenbahnangestellte Wilhelm Sieß wird erster AK-Präsident. Ein Sekretär, ein Hilfsbeamter und eine Stenotypistin stehen ihm zur Seite. Die AK wird in Feldkirch angesiedelt, weil dort schon die Handelskammer steht. Die AK zieht in die Neustadt – mit einem Tisch, ein paar Sesseln und einer geliehenen Schreibmaschine. So fing alles an.
Vorwiegend weibliche, zum Teil barfüßige Belegschaft der Weberei Furtenbach in den 1920er Jahren. © Stadtarchiv Feldkirch
Vater der Arbeiterkammern
Das in diesen schicksalshaften Jahren das Betriebsrätegesetz, das Arbeiterkammergesetz und das „Gesetz über die Errichtung von Einigungsämtern und über kollektive Arbeitsverträge“ Gestalt annehmen, ist kein Zufall. Das Glück der großen Sozialreform ist außergewöhnlichen Politikern wie dem Andelsbucher Christlichsozialen Jodok Fink und dem Sozialdemokraten Ferdinand Hanusch in Wien zu verdanken. Sie dachten über die engen ideologischen Grenzen hinweg. Fink ist durch und durch Pragmatiker. Ihm entgeht nicht, dass Unruhen auch seine Heimat erschüttern. Er hat eine große Qualität: Fink kann zuhören. Der Bregenzer Historiker Meinrad Pichler nennt ihn den „Vater der Arbeiterkammern“.
Was sind die ersten Aufgaben der Arbeiterkammer in Vorarlberg? Die Lehrlingsschutzstelle nimmt schon im Dezember 1921 ihre Arbeit auf, die vor allem Ausbeutung verhindern hilft. Die Zuständigkeit der Arbeitsgerichte wird ausgebaut, und drei Jahre nach ihrer Gründung bietet die AK erste Fortbildungskurse an.
Auch das Urlaubsrecht des modernen Sozialstaats stammt aus dieser Zeit. Es geht auf das Arbeiter-Urlaubsgesetz von 1919 zurück. „Und was haben Vorarlberger Unternehmer nicht alles erfunden, um später die zweite Urlaubswoche für ältere Arbeitnehmer zu umgehen“, erinnert Pichler daran, dass große Firmen durchaus Mitarbeiter vor Erreichen des Anspruchs kündigten und umgehend wieder einstellten, damit sie die zweite Urlaubswoche nie antreten konnten. „Ab 1924/25 kursieren unter den Firmenchefs schwarze Listen mit den Namen derer, die als Gewerkschaftsfunktionäre auffällig geworden waren.“ Einmal gekündigt, sollen sie keinen Job mehr finden.
Aber es nützte alles nichts. Das Rad ließ sich nicht mehr zurückdrehen. Was vor 100 Jahren begann, ist bis heute in Österreich kräftig am Leben.
Kundmachung der ersten Arbeiterkammerwahlen 1921. © Stadtarchiv Bregenz
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