Fünf-Stunden-Tag bei vollem Lohnausgleich? Seit 2017 arbeitet eine Bielefelder Digitalagentur so. An den „Tagen der Utopie“ stellte Lasse Rheingans sein faszinierende Experiment vor. Die AK Vorarlberg war Gastgeberin.
Im Sommer 2017 war ihm alles zu viel geworden: „Ich saß in meinem Garten und dachte: So kann’s nicht weitergehen.“ Heute steht Lasse Rheingans, 40 Jahre alt, zweifacher Vater und studierter Medienwissenschaftler, gelassen auf der Bühne. Die Menschen hängen an seinen Lippen.
Jahrelang hatte er sich als Chef einer Werbeagentur zwischen Familie und Beruf aufgerieben. Viele kennen das: Nie Zeit für die Kinder, Dauerstress, Terminchaos, lähmende Sitzungen. Stunden absitzen im Büro, nur weil die innere Stimme sagt: Du musst immer der Erste und der Letzte sein. Rheingans zog die Reißleine. Er kaufte sich die kleine IT-Consulting Agentur „überblick“ und betrat mit dem 17-köpfigen Team unbekanntes Land: „Wochentags 8 bis 13 Uhr, dann war Schluss.“
Ja, geht denn das?
Und trotzdem gleich viel Urlaub und ein Gehalt, das woanders 40 Arbeitsstunden abgleicht – geht denn das? „Meine Anwältin erklärte mich für verrückt.“ Aber der Fünf-Stunden-Tag wird bald vier Jahre alt, obwohl die Agentur 2019 fast pleite gegangen wäre. „Wir haben damals an einem Tag einen Auftrag über 100.000 Euro verloren.“ Sie haben auch das hingekriegt. Der Teamgeist war längst ein anderer geworden.
Kürzer, nicht weniger arbeiten
Heute ist Lasse Rheingans eine Marke. Medien stehen Schlange. Die Idee des Fünf-Stunden-Tags schlug ein wie eine Bombe. Reaktionen aus aller Welt zeigen ihm, „dass wir offenbar einen Nerv getroffen haben.“ Eine einfache Erkenntnis trieb ihn an: „Acht Stunden, so ein Quatsch! Kein Mensch kann sich so lange konzentrieren.“ Um jedem Missverständnis vorzubeugen: Lasse Rheingans wollte kürzer, er wollte nicht weniger arbeiten.
Also gingen sie die Produktivitätsfresser an. Meetings dauern heute 15 Minuten, „das reicht auch“. Kommunikationsinstrumente wie Email und Slack wurden radikal in die Schranken gewiesen. „Telefon? Haben wir abgeschafft.“ Rheingans ist digital erreichbar. Die Bereinigungsprozesse „haben schonungslos offengelegt, was schlecht lief“.
Vormals elend lange Arbeitstage auf die produktive Zeit einzudampfen, hat manche vor die Herausforderung gestellt, die freie Zeit wieder neu zu entdecken. „Die wussten anfangs gar nicht wohin damit.“
Corona hat auch Rheingans gebeutelt. „Wir sind fast alle im Homeoffice.“ Das gab ihm Gelegenheit, das Büro neu zu erfinden. Nur mehr vier Schreibtische stehen darin. „Dafür gibt es ganz viel Raum für Interaktionen.“ Seine Leute sollen arbeiten, wo und wann sie wollen. Nur eben nicht mehr als fünf Stunden pro Wochentag. „Wir haben eine Zeiterfassung eingeführt, um die Leute vor sich selbst zu schützen, nicht um sie zu kontrollieren.“ Denn eine Arbeitswelt mit Zukunft beruht auf Vertrauen statt auf Kontrolle. Das erfordert viel Beziehungsarbeit. Am Ende des Tages stehen glückliche Mitarbeiter*innen, die ihre Kund*innen entsprechend gut bedienen.
Das kommt auf den Glücksindex
Apropos Glück: Die Entfremdung durch Homeoffice brachte Lasse Rheingans auf die Idee, einen Glücksindex zu erheben. „Wir messen damit, wie gut es den Leuten in ihren Projekten, in ihrer Arbeit geht.“ Denn weder Arbeitszeit noch Arbeitsort sind Gradmesser des Erfolgs, Beziehungs- und Fehlerkultur und ein wertschätzendes Miteinander auf Augenhöhe sehr wohl. Der Mensch braucht einen gleichrangigen Platz neben den Zahlen. Darum geht es.
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