Prof. Dr. Heinrich Geissler ist sich sicher: Den hohen Pflegebdarf in der Zukunft erzeugen wir heute in den Arbeitsbiographien voller Überforderung.
Der Sozialwissenschaftler Prof. Dr. Heinrich Geissler ist sich sicher: Den hohen Pflegebedarf der Zukunft produzieren wir heute schon zu einem guten Teil in den Arbeitsbiographien voller Überforderung. © Bernd Hofmeister
10. Juli 2023
Soziales

"Die Pflegefälle von morgen werden heute in den Betrieben produziert"

Arbeit,Gesundheit,Pflege

Wer wird uns dann einmal pflegen? Bang steht die Frage im Raum. Wir reden unentwegt darüber, wie die Zahl der Pflegebedürftigen wächst und die der Pflegenden schwindet. „Viel zu selten reden wir darüber, dass die enorme Zahl zu Pflegender heute gewissermaßen erzeugt wird“, sagt Sozialwissenschaftler Heinrich Geissler, „und zwar in den Betrieben.“ Das müsste nicht sein.

Inhaltsverzeichnis

Die Gretchenfrage, „wie hältst Du’s mit der Pflege“ wirkt angesichts der demographischen Entwicklung und dem wachsenden Personalmangel in diesem Beruf schlicht unbeantwortbar. 

Die Zahlen mahnen

Die Zahlen weisen in eine schwierige Zukunft: 2050 werden 143.000 Vorarlberger:innen 60 Jahre zählen oder älter sein. Das wäre dann jede:r Dritte, weist die Bevölkerungsprognose der Landesstelle für Statistik aus. Gleichzeitig werden wir schon bis 2030 erheblich mehr Pflege- und Betreuungspersonal brauchen. Die Pflegepersonalprognose des Landes beschreibt bis dahin ein „Loch“ von 2415 Pfleger:innen aus, das es zu stopfen gilt.

Prof. Dr. Heinrich Geissler will die Dramatik hinter diesen Zahlen nicht kleinreden. Aber er macht auf eine andere Facette des Themas aufmerksam, die in seinen Augen viel zu kurz kommt. Dabei bezieht sich der Sozialwissenschaftler, der für die AK Vorarlberg schon dreimal die Studie „Zfrieda schaffa im Krankahus“ durchgeführt hat, auf eine Studie in Finnland, die seinerzeit Furore gemacht hat. „Der Pflegebedarf der Zukunft wird jetzt in den Betrieben erzeugt“, sagt er.

Die Finnen haben ’s erhoben

Die einzige Längsschnitt-Untersuchung dieser Größenordnung wurde in Finnland durchgeführt. Sie hat 45- bis 57-Jährige über 28 Jahre lang begleitet. „Die zwischen 1981 und 2009 ermittelten Werte ergaben, dass nur Menschen mit einer sehr guten Arbeitsbewältigungskonstellation später in der Pension ein ganz normales Risiko hatten, fremde Hilfe für die Haushaltsführung zu brauchen.“ Bei den anderen war dieses deutlich höher. Geissler: „Aufgrund des demographischen Wandels wird es auch in Vorarlberg entscheidend sein, wie viele Menschen 65 plus und insbesondere 80 plus zu einer selbstständigen Haushaltsführung fähig sind.“ Dazu zählen tägliche Aktivitäten wie Einkaufen, Bankgeschäfte, Kochen, Waschen, Freunde besuchen, spazieren gehen usw. Je schlechter die Arbeitsbewältigungsfähigkeit, desto höher das Risiko, ein Pflegefall zu werden.

Das pure Arbeitsumfeld

Zum Ende dieser Studie waren die Probanden dann zwischen 73 und 85 alt. Um sicher nur die Effekte des Arbeitslebens zu berücksichtigen, blieben folgende Faktoren in der Risikobewertung unberücksichtigt: Alter, Beziehungsstatus, Rauchen, Alkohol, sportliche Aktivitäten und die drei wesentlichen Grunderkrankungen des Alters wie Muskel/Skelett, Herzkreislauf und Erkrankungen der Atemwege. „All das spielte in der Bewertung keine Rolle.“ Unterm Strich zählte das pure Arbeitsumfeld. 

Der finnische Professor Juhani Ilmarinen beschreibt die Faktoren, die die Arbeitsfähigkeit bestimmen, im Bild des Hauses der Arbeitsfähigkeit. Dieses Haus besitzt vier Stockwerke.
Der finnische Professor Juhani Ilmarinen beschreibt die Arbeitsfähigkeit im Bild des Hauses der Arbeitsfähigkeit. Die Entwicklung der Arbeitsfähigkeit hängt davon ab, wie stabil das Haus gebaut ist und wie gut es instandgehalten wird. © Ilmarinen, 2009


Grundcheck mit 45

Aber wie kann ich das Risiko jetzt schon minimieren? „Arbeit muss“ Geissler zufolge, „spätestens ab 45 so gestaltet sein, dass das, was Menschen mitbringen an Gesundheit, Leistungsfähigkeit, Kompetenz und Motivation, sehr gut oder zumindest gut mit dem zusammenpasst, was die Arbeit von ihnen fordert.“ Er empfiehlt spätestens mit 45 einen  Grundcheck durchzuführen. „Denn man kann Arbeitsbewältigung messen.“ Auch in Vorarlberg gibt es Spezialisten dafür wie etwa den Arbeitsmediziner Stefan Konzett.

Wie muss man sich so einen Check vorstellen? „Im Grund ist das ein Coaching-Gespräch, in dessen Verlauf Themen wie Gesundheit, Arbeitsbedingungen, Qualifikation, Betriebsklima, Kommunikation und die Führung anschaut. Fragen werden besprochen: Was wünschen sich die Menschen vom Unternehmen? Und was könnte ihre eigener Beitrag sein?“ Denn Arbeitsbewältigung ist keine Einbahnstraße: „Wenn einer sagt, wir haben keine persönliche Schutzausrüstung, frag ich zurück: Aber würdest Du sie auch tragen? Ein anderer moniert: Ich kriege nicht alle Informationen. Meine Gegenfrage lautet: Gibst Du alle Infos, die Du weitergeben musst, auch weiter?“

In Finnland Gesetz

Nicht immer ist eine angesagte Veränderung auch möglich. Geissler hat die Arbeitsmedizinerin eines großen Stahlbetriebs vor Augen, „die draufgekommen ist, dass ein Mitarbeiter zur Nachtschicht unfähig ist“. Der aber war auf das Geld angewiesen. „Ich muss mein Haus abzahlen!“, reagierte er entsetzt. Er konnte in der Nachtschicht bleiben, „die Arbeitsmedizinerin hat ihn aber nun im Auge“. In kürzeren Abständen schaut sie vorbei, bevor der Mann langzeiterkrankt. 

Im Grunde hält Heinrich Geissler ein Plädoyer gegen die Selbstausbeutung, aber er nimmt auch die Firmen in die Pflicht: Noch einmal blickt er gen Norden: "Die Finnen haben ein Gesetz zur Erhaltung der Arbeitsfähigkeit." Das bedeutet, dass die Betriebe drauf schauen müssen, dass die Arbeitsfähigkeit ihrer Belegschaft erhalten bleibt. Und die Versicherungen schauen drauf, dass die Betriebe drauf schauen. "Wenn nun ein Mitarbeiter wegen der Arbeitsbedingungen zehn Jahre vor der Pension frühpensioniert wird, und die Arbeitsbedingungen zuvor schon angemahnt wurden, dann muss das Unternehmen als Strafe für zehn Jahre die Pension an die Sozialversicherung überweisen. Das motiviert ungemein."

Pflege als Job

Du möchtest in die Pflege wechseln? Wir haben #FÜRDICH zahlreiche nützliche Infos zum Thema Pflege auf unserer Website. Wenn du dich für die Ausbildung im Betreuungs- und Pflegebereich interessierst: Bei der Connexia kannst du dich unverbindlich und kostenlos beraten und begleiten lassen.


Newsletter abonnieren

Hol dir den AK-Newsletter in die Inbox, jeden Montag neu.


DAS KÖNNTE dich AUCH INTERESSIEREN

Judith Peter
15. November 2021

Soziales

„Wenn du spürst, jetzt hast Du sie erreicht!“

Seit einem Jahr lässt sich die 43-jährige Hohenemserin Judith Peter über die Implacement-Stiftung der Connexia zur Fach-Sozialbetreuerin für Altenarbeit ausbilden.

Andrea Gabriel absolviert den Ausbildungslehrgang zur Pflegefachassistenz.
8. November 2021

Soziales

„Die Pflege erfüllt mich total“

Andrea Gabriel ist der lebende Beweis dafür, dass man sich auch mit 47 Jahren noch völlig neu orientieren kann. Sie hat in sich schlummernde Qualitäten entdeckt: Die ehemalige Lastwagenfahrerin sattelt gerade in die Pflege um.

AK-Zukunftsdialog zur Pflege
18. Oktober 2021

Soziales

AK-Zukunftsdialog zur Pflege

AK und Landeskrankenhäuser baten Menschen aus unterschiedlichsten Gesundheitsberufen darum, gemeinsam über die Zukunft der Pflege nachzudenken. Sie legten sich einen Tag lang mächtig ins Zeug, denn sie sind allesamt stolz auf ihren Beruf und wollen sich das durch Personalmangel und Überlastungen nicht nehmen lassen.

AK Vorarlberg Service

NÜTZLICHE LINKS

Wissenswertes auf Mausklick.  Das könnte dich auch interessieren:

Newsletter

AK für die Inbox, jeden Montag neu.

AK-Pflegemodell

Das AK-Modell für die Pflege daheim würde pflegende Angehörige entlasten.

Stark für dich

Als AK-Mitglied profitierst du von Services zu Arbeit, Bildung und Konsum.