Tatjana Schnell weiß, wie schwer sich Menschen tun, eingefahrene Denkmuster zu verlassen. „Wir sind kognitive Energiesparer“, sagt sie. „Wir tun alles, um weiterhin zu glauben, was wir glauben wollen.“
Tatjana Schnell weiß, wie schwer sich Menschen tun, eingefahrene Denkmuster zu verlassen. „Wir sind kognitive Energiesparer“, sagt sie. „Wir tun alles, um weiterhin zu glauben, was wir glauben wollen.“ © Erika Mayer, Disputationes
9.8.2025
Bildung

Tatjana Schnell: Warum es gut ist, die dunklen Seiten nicht auszuklammern

Begegnung,Bildung,Gesellschaft,Kultur,Wissen,Wissen fürs Leben

Das geschieht oft aus heiterem Himmel:  Jemand erkrankt oder stirbt. Ein Unfall ereignet sich. Eine Diagnose stellt alles auf den Kopf. Und wir fragen: Warum? Und: Warum ich? Die Psychologin Tatjana Schnell erzählt, weshalb nicht alles einen tieferen Sinn hat, wie wir uns ins Leid auch einlassen können, und was dabei hilft.

Prof. Dr. Tatjana Schnell lehrt an der Universität in Oslo. Gemeinsam mit Kilian Trotier hat sie 2024 das Buch „Sinn finden“ herausgebracht. „Warum es gut ist, das Leben zu hinterfragen“, steht auf dem Cover. Bei den Disputationes in Salzburg arbeitet sie präzise wichtige Grenzlinien heraus.

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Die Salzburger Disputationes werden jedes Jahr mit viel Gespür von der gebürtigen Feldkircherin Dr. Claudia Schmidt-Hahn in Szene gesetzt. Frauen und Männer aus Wissenschaft und Kultur haben sich im Rahmen der Salzburger Festspiele 2025 dem Schicksal gewidmet. Die Professorin für Existenzanalyse, Tatjana Schnell, reflektierte die Frage: Hat alles seinen Sinn? Tatjana Schnell wird am 4. November in der AK Reihe "Wissen fürs Leben" zu Gast sein. Der Eintritt ist frei. Um Online-Anmeldung bitten wir kerzlich.

In diesem Blog:

  1. Das Universum straft mich
  2. Alles wird gut
  3. Es sind Illusionen
  4. Zur Person Tatjana Schnell

Es gibt Situationen, „die machen uns porös für die Sinnfrage“, sagt Schnell. Die Frage nach dem Warum ist dann nur allzu menschlich. Aber sie ist auch gefährlich. Denn sie setzt voraus, dass es eine Antwort gibt. Das ist letztendlich eine Frage der Weltanschauung. Tatjana Schnell selbst glaubt nicht an das Schicksal.

Wissen fürs Leben

In der Reihe "Wissen fürs Leben" lädt die AK namhafte ReferentInnen aus Philosophie, Psychologie, Natur-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften zu Vorträgen nach Feldkirch ein, die auf unserem Youtube-Kanal erhalten bleiben. Tatjana Schnell ist am 4. November zu Gast.

„Ich glaube daran, dass Dinge geschehen, weil komplexe Dynamiken im Spiel sind, und dass nicht alles einen Sinn hat.“ Deshalb führt die Frage nach dem Warum und nach dem Sinn zu keinem Ergebnis, wenn neun junge Menschen an einem gewöhnlichen Schultag in ihr Gymnasium gehen und nicht mehr heimkommen, weil ein 21-Jähriger sie erschießt. 

Das Universum straft mich

Also noch einmal zur Ausgangssituation: Das Schicksal schlägt zu, unser Leben bleibt stehen. Und nun finden manche Menschen Antworten wie „Gott will mich testen“ oder „das Universum straft mich“. Tatsächlich können solche Antworten tragen. Ein Schicksalsschlag ist leichter mit einem tieferen Sinn als Ursache zu ertragen, als im Wissen, dass es reiner Zufall war.  Aber was für ein furchtbares Gottesbild dringt da an die Oberfläche? Tatjana Schnell gestattet sich keine Wertung. „Man darf jemandem nicht etwas wegnehmen, das ihn trägt.“ 

Und doch: Geradezu bedrohlich wird die Frage nach dem Sinn für die vielen, die immer und immer wieder eine Erklärung suchen und keine finden. „Die Mehrheit der Studien zeigt, dass die Suche nach einem Sinn in einem Ereignis, das ohne mein Zutun geschehen ist, die Betroffenen in einer Spirale gefangen hält und die Auseinandersetzung mit dem Ereignis verhindert.“

Wissenschaftlich untersucht wurde das u. a. nach dem Hurrikan „Katrina“, der im August 2005 mit verheerender Wucht über New Orleans hereinbrach und 1800 Menschenleben forderte. Ein Teil der Befragten meinte, diejenigen, die gestorben seien, hätten irgendetwas falsch gemacht. „Das ist eine sehr gefährliche Art, solche Ereignisse zu interpretieren“, betont Tatjana Schnell. Sie hilft den Überlebenden auf lange Sicht nicht weiter. „Denjenigen, die sagten, dass sie einen Sinn im Ereignis suchten, ging es Monate oder Jahre danach schlechter als jenen, die sagten, das ist geschehen, aber ich kann damit umgehen.“

»Viele von uns leben mit positiven Illusionen. Denke positiv und alles wird gut! Wir glauben, die Welt ist gerecht. Jeder verdient, was er bekommt. Wenn wir uns nur anstrengen, sind wir erfolgreich. Der Tod? Ist weit entfernt! Das mag kurzfristig motivieren, aber es sind und bleiben Illusionen.«

Psychologin und Philosophin

Prof. Dr. Tatjana Schnell

Alles wird gut

Im Übrigen macht sich ein neues Narrativ breit, das sie für mindestens so problematisch hält: Nutze die Krise als Chance. Es hat alles seinen Sinn. Die Autorin Barbara Ehrenreich hat das internationale Geschäft mit dem Optimismus, die Schönrederei bei Krebs und illusionslose Wege zum Glück thematisiert. Sie war selbst an Brustkrebs erkrankt und fand in den einschlägigen Kreisen schwachen Trost, der darin gipfelte, dass Betroffene ihren Brustkrebs geradezu als Geschenk betrachteten. 

Die Psychologin Tatjana Schnell (m) war neben dem Wiener Physiker Werner Gruber (r) Gast bei den Disputationes im Rahmen der Salzburger Festspiele. Der Theologe und Wissenschaftsjournalist Joseph Bruckmoser moderierte den Nachmittag.
Die Psychologin Tatjana Schnell (m) war neben dem Wiener Physiker Werner Gruber (r) Gast bei den Disputationes im Rahmen der Salzburger Festspiele. Der Theologe und Wissenschaftsjournalist Joseph Bruckmoser moderierte den Nachmittag. © Erika Mayer, Disputationes


Es sind Illusionen

„Viele von uns leben mit positiven Illusionen“, sagt Tatjana Schnell: „Denke positiv und alles wird gut! Wir glauben, die Welt ist gerecht. Jeder verdient, was er bekommt. Wenn wir uns nur anstrengen, sind wir erfolgreich. Der Tod? Ist weit entfernt! Alles wird gut.! All diese Annahmen sind positiv, sie motivieren auch. Aber nur kurzfristig, denn „es sind Illusionen“. 

Die Suche nach einem situativen Sinn ist Schnell zufolge in vielen Fällen kontraproduktiv. Sie lädt dazu ein, im Gegenteil anzuerkennen, dass unsere Existenz von Gegensätzen geprägt ist: Glück und Trauer, Hell und Dunkel. "Wenn es das eine nicht gäbe, gäbe es das andere nicht." Gewiss, das ist eine ziemliche Zumutung. "Aber es ist heilsam, auch die dunkle Seite zuzulassen."

Der deutsche und später US-amerikanische protestantische Theologe Paul Tillich schrieb: Der Mut zum Sein ist der Mut zum Verzweifeln. "Die Angst hat einen Platz in meinem Leben", sagt Tatjana Schnell. "Wir müssen uns darauf einlassen. Lassen wir das Leid zu, sind wir keine im Übrigen hilflosen Opfer, denn Leiden ist ein Verb. Dann tun wir bereits etwas!" 

Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard nannte es die „transformative Kraft des Leidens“. Er schlägt vor, in das Leiden hineinzugehen und es zu verinnerlichen. „Das ist quasi paradox, weil es das Gegenteil von dem ist, was wir uns wünschen", sagt Schnell. "Aber die Forschung zeigt, dass dieses Hineingehen in das Leid ein guter Weg ist, um es dann tatsächlich auch loslassen zu können. Wir können Leid am besten bewältigen, wenn wir es zulassen und nicht verdrängen. Nur so ist ein realistischer Umgang möglich.“ 

Zur Person Tatjana Schnell

Prof. Dr. Tatjana Schnell ist seit 2020 Professorin für Existenzielle Psychologie an der MF Specialized University in Oslo, Norwegen, und Fellow an der Humanistischen Hochschule Berlin, Deutschland. Seit über 20 Jahren erforscht sie die Frage nach dem Sinn: im Leben, in der Arbeit, in Krisenzeiten. Schnell forscht empirisch zu Themen wie Lebenssinn, Weltanschauung, gesellschaftlicher Zugehörigkeit und Entfremdung, Umgang mit Leid und Sterblichkeit und deren praktischer Bedeutung für Individuen, Organisationen, Gesellschaft und Umwelt. Mit der Sinnmacher App bieten Tatjana Schnell und ihr Team Zugänge zum Entdecken des persönlichen Lebenssinns und berichten über Entwicklungen in der internationalen Sinnforschung. Am 4. November ist Tatjana Schnell in der AK Reihe „Wissen fürs Leben“ zu Gast.

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