28.5.2024
Arbeit
Nur ein Konjunkturpuffer? Menschen kamen und sind geblieben
Arbeit,Arbeitsrecht,Beratung,Bildung,Familie,Geschichte,Gesellschaft,Interessenvertretung
Wie sich der Schweizer Schriftsteller Max Frisch 1965 zur Arbeitsmigration geäußert hat, das blieb im Gedächtnis: „Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen.“ Zur Erinnerung an das Anwerbeabkommen zwischen Wien und Ankara und die damit verbundenen Schicksale bringt die Bregenzer Theatergruppe Motif ein berührendes Stück vom Amos Postner auf die Bühne, das den Bogen über drei Generationen spannt.
In diesem Beitrag
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Heute leben in Vorarlberg rund 40.000 Personen mit türkischer Staatsbürgerschaft oder mindestens einem in der Türkei geborenen Elternteil. „Das entspricht zehn Prozent der Vorarlberger Bevölkerung“, entnimmt Caroline Manahl von der Projektstelle okay.zusammen leben der Mikrozensus-Erhebung. Deren Basis bilden die Jahresdurchschnitte 2020 bis 2022. „Von den etwa 16.300 Menschen der ersten Generation, die in der Türkei geboren sind, leben heute rund 750 Personen in Vorarlberg, die 75 Jahre oder älter sind.“ Soweit die Zahlen.
In Spanien abgeblitzt
Markus Barnay hat die letzte Ausgabe der Reihe „freitags um 5“ im Vorarlberg Museum dem Anwerbeabkommen vor 60 Jahren gewidmet. Im Vortragssaal bleibt kein Stuhl leer. Fast alle hier bringen ihre eigene türkisch-österreichische Erfahrung mit. Bis hin zu Esra Karsli, die mit ihrem Text "Suche nach der Heimat" im Frühjahr den Landesjugendwettebwerb gewann.
Dabei suchte Österreich ursprünglich ja ganz woanders. Das erste Anwerbeabkommen, das Österreich 1962 mit Spanien abgeschlossen hatte, blieb aber praktisch bedeutungslos. „Die Schweiz und Deutschland waren mit ihren höheren Löhnen für die Spanier attraktiver“, hat Markus Barnay recherchiert. Fündig wurde man in der Türkei. Barnay erzählt von den Verfahren vor Ort, die auch "einen medizinischen Test zur Arbeitsfähigkeit" beinhalteten, und von der ersten Abschiebewelle Mitte der 1970er Jahre, die mehrere tausend Menschen betraf. Nicht zuletzt der Niedergang der Textilindustrie beschleunigte Rückführungsaktionen.
Sie stehen im Theaterstück für die erste Generation: Serap Savastürk (Grafikdesignerin) und Okan Kalfa (Stadtpolizei Dornbirn). © Florian Koller-Mistura, Motif
Bildungskarrieren
Seither hat sich viel verändert. In der ersten Generation brachten noch knapp 80 Prozent der Frauen und Männer nur einen Pflichtschulabschluss mit. Anders die Enkelgeneration, weist Caroline Manahl nach: Dem Mikrozensus zufolge sank der Anteil der Menschen mit Pflichtschulniveau bis 2020/22 auf 22 Prozent, derjenige der Maturant:innen stieg auf 30 Prozent.
"Kommen und Gehen"
Doch genug Statistik: Welche Schicksale aus drei Generationen sich hinter all den Zahlen verbergen, zeigt auf eindrucksvolle Weise das Theaterstück „Kommen und Gehen“, dessen Text der Lustenauer Autor Amos Postner verfasst hat. Das Stück hat am 7. Juni im Bregenzer Theater Kosmos Premiere. Es beginnt mit einem Traum. Fremdarbeiter schlafen dicht gedrängt in ihrer Unterkunft, aber einen lässt sein Traum nicht los. Einmal eine eigene Fabrik besitzen, wie das wohl wäre… Der da träumt, ist der Vater von Özlem, einer jungen Deutschlehrerin, die sich nach Jahrzehnten unversehends mit der Herkunftsgeschichte ihrer Eltern konfrontiert sieht.
Am 7. Juni 2024 feiert das Auftragsstück "Kommen und Gehen" von Amos Postner am Theater Kosmos in Bregenz Premiere. Weitere Aufführungstermine sind der 08.06.24, 14.06.24 und 15.06.24, jeweils um 20:00 oder der 09.06.24 und 16.06.24 um 17:00. MOTIF erinnert mit diesem Stück an das Anwerbeabkommen zwischen Österreich und der Türkei, das vor 60 Jahren beschlossen wurde. Das Theaterstück „Kommen und Gehen“ fragt nach Erinnerung und Folgen der damit einsetzenden Migration. © Interkultureller Verein, Motif
Mehr zum Theaterstück
Metin gleicht meinem Opa, der es einfach nicht geschafft hat, es allen recht zu machen. Der Text hat mich sehr traurig gemacht. Ich bin selber mit sechs Jahren zu meinen Großeltern in die Türkei geschickt und drei Jahre später wieder nach Österreich zurückgeholt worden.
Okan Kalfa, der den Metin spielt
Kader Eraslan (Friseurmeisterin aus Bregenz) spielt Özlem: "Jeder findet sich in dieser Geschichte. Ich frag mich echt, wie Amos Postner das hinbekommen hat." © Thovas Matt, AK Vorarlberg
Özlems Mutter und Vater sind seinerzeit aus der Türkei nach Österreich ausgewandert. Als ihre Mutter ihr eine mysteriöse Kassette schickt, gerät Özlems geordnete Welt ins Schwanken. Mit ihrer familiären Vergangenheit wollte sie eigentlich nichts mehr zu tun haben. Aber kann man seine Wurzeln einfach ausradieren? Die Kassette enthält Aufnahmen aus der Zeit vor Özlems Geburt, als ihr Vater Metin allein in Österreich gelebt hat. Von Sequenz zu Sequenz verschwimmen Vergangenheit und Gegenwart ineinander.
Heute ganz andere Probleme
Für Okan Kalfa (36), der im Zivilberuf als Dornbirner Stadtpolizist Dienst tut, geht seine Rolle als Metin mitunter hart an die Grenzen. "Metin erinnert mich stark an meinen Großvater, der es auch nicht geschafft hat, es allen recht zu machen." Manchmal kämpft er auf der Bühne mit den Tränen. Kader Eraslan (36) verkörpert Özlem. Sie spielt begeistert Laientheater, wenn sie nicht gerade als Friseurmeisterin in Bregenz ihre Frau steht. Der Text von Amos Postner geht auch ihr unter die Haut: "Jeder findet sich in dieser Geschichte. Ich frag mich echt, wie Amos Postner das hinbekommen hat." Ihrer Erfahrung nach haben sich die Problemlagen über die Generationen hinweg verändert. "Ich selber fühle mich beinahe schon assimiliert", sagt sie, "dafür haben die Jugendlichen mit migrantischem Hintergrund heute andere Probleme."
Umso wichtiger ist es – da ist sich die ganze Theatergruppe Motif rund um den künstlerischen Leiter und Obmann Yener Polat einig – sich in Erinnerung zu rufen, wie alles angefangen hat. Mit einem Traum. Oder wie es der Schweizer Autor Max Frisch 1965 über die italienischen Arbeitsmigranten in der Schweiz formuliert hat: "Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen. Sie fressen den Wohlstand nicht auf, im Gegenteil, sie sind für den Wohlstand unerlässlich. Aber sie sind da. Gastarbeiter oder Fremdarbeiter? Ich bin fürs Letztere: sie sind keine Gäste, die man bedient, um an ihnen zu verdienen; sie arbeiten, und zwar in der Fremde, weil sie in ihrem eigenen Land zurzeit auf keinen grünen Zweig kommen. Das kann man ihnen nicht übel nehmen."
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