Vor 60 Jahren schloss Österreich mit der Türkei ein Anwerbeabkommen ab. Der Fotograf Rudolf Zündel begleitete 1977 einen Gastarbeiterbus auf der Reise in die Heimat. Seine Fotoarbeit betitelte er mit „Als Tschusch unter Gastarbeitern“.
Vor 60 Jahren schloss Österreich mit der Türkei ein Anwerbeabkommen ab. Der Fotograf Rudolf Zündel begleitete 1977 einen Gastarbeiterbus auf der Reise in die Heimat. Seine Fotoarbeit betitelte er mit „Als Tschusch unter Gastarbeitern“. © Rudolf Zündel, vorarlberg museum
22.5.2024
Arbeit

Gastarbeiter: Der Traum vom besseren Leben ließ die Fremde zur zweiten Heimat werden

Arbeit,Arbeitsrecht,Beratung,Bildung,Familie,Geschichte,Gesellschaft,Interessenvertretung

Gastarbeiter – eigentlich ein sonderbares Wort. Müssen Gäste denn arbeiten? Die österreichische Gesellschaft prägte den Begriff bewusst, als die Abkommen zwischen Österreich und der Türkei (1964) und Jugoslawien (1966) Arbeitsmigration im ganz großen Stil forcierte. Denn sie sollten jedenfalls wieder gehen, wenn die Arbeit getan war. Die AK errichtete 1967 ein eigenes Gastarbeiterreferat. Das half auch den einheimischen Dienstnehmern.

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Drei Jahre nach Inkrafttreten des Anwerbeabkommens mit der Türkei richtete die AK Vorarlberg ein "Fremdarbeiterreferat" ein. "Rund 8400 ausländische Gastarbeiter" mussten betreut werden. Das geschah mitunter ganz handfest. So findet man im Tätigkeitsbericht 1967 die "Aktion Sonderzug – Weihnachten": 1200 jugoslawische Gastarbeiter konnten mithilfe der AK Vorarlberg in Sonderzügen und -waggons ihren Weihnachtsurlaub antreten. Der damalige Kammeramtsdirektor Dr. Karl Eschen führte zwei Gründe für das erhöhte Engagement der AK  ins Treffen:

„Habe ich mein Land verlassen oder hat es mich verlassen? Was ich dort verloren habe, schmerzt mehr als das Vorurteil hier“, schrieb der Dichter Kündet Şurdum.
„Habe ich mein Land verlassen oder hat es mich verlassen? Was ich dort verloren habe, schmerzt mehr als das Vorurteil hier“, schrieb der Dichter Kündet Şurdum. © Nikolaus Walter, Vorarlberger Landesbibliothek

Österreich hat einen Ruf zu verlieren

Einmal galt es, "die Einhaltung der arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften auch gegenüber den Fremdarbeitern" einzuhalten. Im Übrigen war sich Eschen sicher, werde sich "diese Kammertätigkeit auch für die einheimischen Dienstnehmer positiv auswirken, weil Lohnunterbietungen u. ä. damit verhindert werden und so sichergestellt werden kann, dass der ausländische Gastarbeiter nicht als unterschwellige Konkurrenz für die einheimische Arbeitskraft verwendet werden kann".

Die AK nahm mit ihrem Beschluss besonders auch die Arbeitgeber in die Pflicht, "welche wesentlich mit beitragen, den guten Ruf Österreichs auf dem Gebiet des Arbeits- und Sozialrechtes im Ausland zu festigen". Zu diesem Zeitpunkt weist die Statistik der AK allein für 17 Textilbetriebe einen Fremdarbeiteranteil von 20 bis 30 Prozent aus. Die Gesamtzahl der im Monatsdurchschnitt beschäftigten Ausländer in Vorarlberg kletterte von 12.303 im Jahr 1969) auf 24.513 im Jahr 1973.

Ein Mann, der in die Kamera blickt

Von der Notwendigkeit zum Sündenbock

Bis 1979 hielt der Zuzug von Jugoslawen und Türken – mit oder auch ohne Arbeitsgenehmigungen – an und erlebte einen regelrechten Boom. Häufig waren die zu Niedriglöhnen arbeitenden Ausländer allerdings Analphabeten und beruflich unqualifiziert. Als „Touristen“ wurden sie von „Schleppern“ ins Land gebracht. Oft lebten sie, was die Wohnsituation betraf, unter unwürdigen Verhältnissen.

Die allgemein liberale Gastarbeiterpolitik nahm Anfang der 1970er-Jahre mit der beginnenden Wirtschaftsrezession ein allmähliches Ende: Beschäftigungsbewilligungen wurden limitiert und streng kontrolliert, die freie Arbeitsplatzwahl wurde verboten. Damit kam man auch der Haltung vieler Vorarlberger entgegen, die gegenüber den Gastarbeitern, nun vermehrt arbeitslos geworden, „gewisse Bedenken“ hegten. Das Vorurteil des „Sozialschmarotzertums“ begann zu kursieren. Sie waren nun keine „Notwendigkeit“ mehr, sondern belasteten gar den Arbeitsmarkt.

Ein eigenes kleines Stück Land beackern dürfen – in Schrebergärten fanden sich die Leidenschaften hier geborener und zugewanderter Bevölkerung.
Ein eigenes kleines Stück Land beackern dürfen – in Schrebergärten fanden sich die Leidenschaften hier geborener und zugewanderter Bevölkerung. © Nikolaus Walter, Vorarlberger Landesbibliothek

Ein eigener Ausschuss

1971 gründete die AK Vollversammlung einen eigenen Ausschuss für Gastarbeiterfragen. Die Kammerrätinnen und Kammerräte konzentrierten sich vor allem auf fünf Bereiche: auf die Verhinderung des illegalen Schlepperwesens, auf arbeits- und sozialrechtliche Informationen und Beratung, auf die Integration, auf den Wohnungsmarkt und auf die Freizeitgestaltung. Warum das so wichtig war? Die AK Vorarlberg begründet das im Jahr 1982 lapidar: „Die Unternehmerorganisationen fühlten sich immer weniger für Gastarbeiterfragen zuständig."

Eigene Medien als Schlüssel zur Integration

Um die Informationsbarrieren zu überwinden und den meist der deutschen Sprache unkundigen Gastarbeitern die „Annäherung“ an die heimische Kultur, Gesellschaft und Wirtschaft zu erleichtern, spielten muttersprachliche Medien eine wichtige Rolle. 1986 gab es in Vorarlberg sechs Gastarbeiterzeitungen, drei für Zuwanderer aus der Türkei und drei für jene aus Jugoslawien. Monatlich erschien die „Mi“ für Jugoslaw:innen und die „BIZ“ für Türk:innen. Inhaltlich waren sie meist ident und wurden in Vorarlbergs Betrieben kostenlos verteilt. Träger waren die Kammern, das Land, die Diözese und die Österreichisch-Türkische und Österreichisch-Jugoslawische Gesellschaft. Der ORF bot täglich in den beiden Sprachen Informationssendungen an. Mit Schwerpunkt auf soziale und berufliche Fragen beschäftigte sich auch die Gastarbeiterzeitung des Gewerkschaftsbundes.

Ab 1987 gab die AK die Zeitungen „AKtualno“ für die slawischen und „AKtüel“ für die türkischen Beschäftigten heraus, sie lösten die Zeitungen „Mi“ und „BIZ“ ab. Sie wurden nun an die Wohnadressen verteilt, da in Kleinbetrieben keine Betriebsratsobmänner und Gastarbeitersprecher vorhanden waren, denen die Zeitungsverteilung bislang oblag. Ein wichtiges Kommunikationsmittel waren auch die sogenannten Sprechtage mit Dolmetschern wie dem türkisch-stämmigen Germanisten und Kunsthistoriker Kundeyt Şurdum. 

Auf diesem Bild des Vorarlberger Fotografen Nikolaus Walter ist der türkisch-stämmige Dichter Kundeyt Şurdum zu sehen. Von Busbahnhöfen wie diesem führten die Routen zu den Arbeitsstätten in der Fremde.
Auf diesem Bild des Vorarlberger Fotografen Nikolaus Walter ist der türkisch-stämmige Dichter Kundeyt Şurdum zu sehen. Von Busbahnhöfen wie diesem führten die Routen zu den Arbeitsstätten in der Fremde. © Nikolaus Walter, Vorarlberger Landesbibliothek

Unter einem geliehenen Himmel

Von 1972 bis 1988 arbeitete der markante kleine Mann mit der Baskenmütze als Übersetzer für die AK Vorarlberg, ab 1980 gab er Türkischkurse im Auftrag der AK. Für seine literarische Tätigkeit wurde Kundeyt Şurdum mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Johann-Peter-Hebel-Preis (1996). Kein anderer hat all die Verluste und Hoffnungen, die Ängste und vorsichtigen Annäherungen, die Fremdenfeindlichkeit und auch entstehende Freundschaften so in Worte kleiden können wie er. 

Bahnhof
Kinder vergessen schnell
deshalb sei nicht traurig
wenn sie dich nicht wiedererkennen
siehst du zurück
über den Sakaryafluss ziehen reife wolken vorbei
dort am ufer auf den steinen rings spielen kinder
wenn sie nicht sterben an masern
an träumerischer Unterernährung
findest du sie wieder unter den Holzbirne
wenn du auf urlaub gehst
mit Tonband und Kofferradio
bringst du ihnen sicher
eine blauäugige puppe

komm über die trockenen fugen komm bepackt mit geschenken
geschmuggelt an zahlreichen grenzen komm an fahnen vorbei
komm bald denn die kinder sterben schnell.

Aus Kundeyt Şurdum (1937 – 2016), „Unter einem geliehenen Himmel“ (1988).

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Am 7. Juni 2024 feiert das Auftragsstück "Kommen und Gehen" von Amos Postner am Theater Kosmos in Bregenz Premiere. Weitere Aufführungstermine sind der 08.06.24, 14.06.24 und 15.06.24, jeweils um 20:00 oder der 09.06.24 und 16.06.24 um 17:00. MOTIF erinnert mit diesem Stück an das Anwerbeabkommen zwischen Österreich und der Türkei, das vor 60 Jahren beschlossen wurde. Das Theaterstück „Kommen und Gehen“ fragt nach Erinnerung und Folgen der damit einsetzenden Migration.
Am 7. Juni 2024 feiert das Auftragsstück "Kommen und Gehen" von Amos Postner am Theater Kosmos in Bregenz Premiere. Weitere Aufführungstermine sind der 08.06.24, 14.06.24 und 15.06.24, jeweils um 20:00 oder der 09.06.24 und 16.06.24 um 17:00. MOTIF erinnert mit diesem Stück an das Anwerbeabkommen zwischen Österreich und der Türkei, das vor 60 Jahren beschlossen wurde. Das Theaterstück „Kommen und Gehen“ fragt nach Erinnerung und Folgen der damit einsetzenden Migration. © Interkultureller Verein, Motif



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