Arbeit
Arbeitsglück mit Ablaufdatum
Als Betroffene von Langzeitarbeitslosigkeit wünscht sie sich eine dauerhafte Perspektive. Doch die Realität sieht anders aus. Heidrun Hartlieb über das anstregende Leben im Hin und Her.
In diesem Beitrag
„Kann man schon etwas abgeben?“, fragt die Frau aus der Nachbarschaft, die ihre Rücksitze im Kleinwagen umlegen musste, damit das Bügelbrett auch Platz hat. Nach und nach trägt Orhan kleine Möbelstücke und Haushaltswaren ins Lager, die ausgedient haben. Sie sind noch gut, aber eben nicht mehr neu. Im carla Möslepark warten sie nun auf die Auferstehung in ein zweites Leben. Das ist im Augenblick Orhans Job: Abgelegtes einzulagern in der Hoffnung darauf, dass bald wieder jemand Verwendung dafür findet.
Orhan Sak ist 34 Jahre alt. Mit seinen Dreadlocks und den umfangreichen Tätowierungen wirkt er jünger. Er hat etwas Bubenhaftes. Man könnte ihn sich gut auf einer Harley vorstellen. Aber Orhan hat keinen Führerschein. Das ist sich irgendwie nie ausgegangen. „Und jetzt kostet der über zwei Hebel. Die spinnen doch voll!“
Schon nach wenigen Sätzen wird klar: Orhan lebt in einer Welt, die sich ein halbwegs situierter Mittelschichtler gar nicht vorstellen kann. Orhanm kam in Thüringen zur Welt und hat dort die Volksschule und in Götzis die Hauptschule besucht. Er hat eine ältere Schwester, „die ist Hausfrau mit fünf Kindern“. Seinen Vater kennt er nicht. „Der ist abgehauen, als ich noch klein war.“
Orhan ist längst selber Vater von drei Kindern. Mit keiner der beiden Mütter lebt er noch zusammen. Seine jüngsten Kinder sind 4 und 6 Jahre alt. Sein Ältester besucht mit 16 Jahren die Berufsschule als angehender Bürokaufmann.
Das wollte Orhan auch einmal, eine Lehre absolvieren. Schlosser wollte er werden, „weil man dort gut verdient und die Metallbranche nie aussterben wird“. Aber Orhan hielt nicht durch. Dabei wurde er im Überbetrieblichen Ausbildungszentrum, das heute als Ausbildungszentrum Vorarlberg (AZV) Lehrstellen anbietet, auch sozial begleitet. Aber nach einer gewissen Zeit warf er das Handtuch. „Wegen dem Geld“, sagt er heute und fügt an: „Ich war noch jung und dumm.“
Er tat sich auch schwer. Vor allem in der Berufsschule: „Der Lehrer hat uns etwas erzählt, und das wars.“ Wiederholt habe der nichts. Ob ihm Mitschüler geholfen haben, daran kann er sich nicht mehr erinnern. „Mathe war gar nicht mein Ding“, das weiß er noch. Und dass er bald keinen Bock mehr auf Schule hatte, das auch. „Wie viele andere.“
So wurde Orhan Hilfsarbeiter. Eine Leasingfirma hat ihn auf Baustellen vermittelt. Dort hat er erledigt, was ihm andere anschafften: Putzen, Beton mischen usw. Am Bau gibt es eine klare Hackordnung. Orhan stand ganz unten, dabei ist er ein widerständiger Mensch. Immerhin, finanziell ging die Rechnung auf: „Ich habe damals 1800 Euro verdient!“ Und da war er noch nicht einmal volljährig! Er muss sich gefühlt haben wie ein König. „Es war trotzdem blöde“, sagt er heute. „Ich kann ja nichts vorzeigen.“ Nicht einmal Zeugnisse besitzt er. Die schulischen sind irgendwo „verschlampt“, um Arbeitszeugnisse müsste er Firmen und Arbeitsinitiativen nachträglich bitten. Das fiele schon deshalb schwer, weil er nicht immer mit allen klar kam.
Auch im Möslepark fühlt er sich nur teilweise wohl. Die anderen dürfen rausfahren, Waren abholen. Er muss im Lager versauern. Das wird er dem Chef sagen, wenn demnächst seine sechs Wochen Probezeit enden und das entscheidende Gespräch ansteht.
Hat Orhan Pläne? Nein. Noch einmal eine Lehre versuchen, wäre das nicht die Lösung? Er schüttelt den Kopf: „Das kann ich nicht beantworten.“ Orham hat Zweifel. Mathe macht ihm Angst. Er glaubt nicht, dass er das schaffen könnte. Dabei hatte er in allen anderen Fächern „Einser und Zweier“. Kurz leuchtet etwas auf in seinen Augen. Und erlischt. Es wird halt so weiter gehen: Nach Miete und den Alimenten bleibt ihm wenig Geld übrig. Er braucht es für Essen, Zigaretten, Kleidung. „Mal essen gehen oder einen Ausflug machen, das kannst Du vergessen.“ Von den gestiegenen Preisen fühlt er sich „verarscht“. Auf Urlaub war er zuletzt 2005, in Istanbul, wo Verwandte wohnen.
Hat Orhan Wünsche? Da muss er nachdenken. „Ich will den Job kriegen, den ich gerne machen will.“ Und das wäre? Grünanlagen pflegen zum Beispiel, das würde er gerne. „Dafür muss man nicht studieren gehen“, sagt er mit großer Bestimmtheit. Aber eine Spur nachdenklicher fügt er an: „Dafür brauche ich aber einen Führerschein.“ Und wieder dreht sich die bekannte Spirale: Ohne Führerschein wäre er zum Beifahrer verurteilt, erneut nur Hilfskraft. Das will er nicht mehr. Er will sich nicht mehr verarscht fühlen. Er will … aber er kann nicht … und möchte doch …
Lothar Widmann ist Orhans Arbeitsanleiter. „Von den Menschen, die ihm das AMS vermittelt, bringen wir etwa 30 Prozent im ersten Arbeitsmarkt unter“, sagt er. Und die anderen? Manche sind körperlich am Ende, sozial schwer vermittelbar, ohne Ausbildung … andere haben kurz vor der Pensionierung keine Chance mehr auf einen neuen Job oder scheitern an fehlenden Kinderbetreuungsangeboten.
Widmann kann die vom Arbeitsmarktservice (AMS) vermittelten Frauen und Männer vier bis sechs Monate lang behalten, dann müssen sie erneut ein Jahr lang nach "draußen" Arbeit suchen. Meistens erfolglos, viele kehren wieder, erneut für vier bis sechs Monate, und so fort. So sind die Spielregeln.
Wenn sie das erste Mal vor ihm stehen mit all ihren Problemen, dann würde ihnen Widmann am liebsten den handfesten Rat mitgeben: „Zähne zusammenbeißen und wollen!“ Doch wenn sie vom Arbeitsprojekt nach einem halben Jahr wieder in die Beschäftigungslosigkeit schlittern, verlieren viele über Nacht die Tagesstruktur und damit jeglichen Halt.
Es gibt Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht am klassischen Arbeitsmarkt zurande kommen. Die niemand haben will. Auch, wenn sie sich noch so bemühen. Und die doch leben müssen.
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