Bildung
Ein Engel in der Hölle von Auschwitz
Die österreichische Krankenschwester Maria Stromberger rettete KZ-Häftlinge in Auschwitz. Harald Walser hat die erste umfassende Biografie über sie geschrieben.
2017 hat der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz der Welt diese Diagnose gestellt: „Wenn der öffentliche Diskurs ein Patient in der psychologischen Therapie wäre, dann müsste man bei ihm Züge des Manisch-Depressiven diagnostizieren.“ Reckwitz lehrt an der Humboldt-Universität in Berlin. Er sah genau, wie grenzenlose Euphorie und abgrundtiefe Ausweglosigkeit eng nebeneinander liegen. Ein immenser Fortschrittsoptimismus steht dystopischen Erwartungen gegenüber. „Diese Polarisierungen im Modus Schwarz-Weiß, Gut-Böse oder Hoch-Tief entstehen Renate Daniel zufolge „immer dann, wenn bisherige Strategien in einer herausfordernden Situation nicht mehr funktionieren“.
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Nun gehören Polarisierungen zum Menschsein. Sie sind dem Menschen in die Wiege gelegt. „Entlang der Spannung insbesondere zwischen den Polen Gut und Böse, die eng verknüpft sind mit dem Eigenen und dem Fremden, entwickelt sich Identität.“ Sie entsteht durch die Abgrenzung von anderen. Das ist freilich ein scharfer Ritt. Denn wenn Verunsicherung und Angst jeden Zweifel an sich selbst im Keim ersticken, entstehen Intoleranz, Ausgrenzung und Gewalt. „Die Dynamik des Lebens aber verträgt keine starre Identität, sondern verlangt Flexibilität angesichts immer neuer Herausforderungen.“ Das kann nur gelingen, wenn Menschen lernen, sich selbst in Frage zu stellen und dem Anderen mit Interesse zu begegnen.
Gelingt das nicht, behilft sich der Mensch mit Feindbildern. Die sind einfach gestrickt. Ganz nach dem Motto „die bösen Russen“, „die Sozialschmarotzer“, „die diebischen Roma“ usw. Renate Daniel zeigt aber am Beispiel der französischen Widerstandskämpferin Irène Laure, wie Menschen sich wandeln können: Laure hasste alle Deutschen erbittert, weil Nazis ihren Sohn hatten. Auf einer internationalen Konferenz sprach sie zufällig mit Claritta von Trott, deren Mann nach dem Attentatsversuch auf Hitler am 20. Juli 1944 hingerichtet worden war. Daraufhin sagte Irène Laure öffentlich im Plenum: „Ich habe Deutschland so gehasst, dass ich sehen wollte, wie es von der Landkarte Europas ausradiert wird. Ich habe jedoch gesehen, dass mein Hass falsch ist. Ich möchte alle hier anwesenden Deutschen um Vergebung bitten.“ Später reiste Irène Laure durch ganz Deutschland und trug Wesentliches bei zur deutsch-französischen Versöhnung.
Den Kreislauf des Hasses durchbrochen hat hier eine emotional erschütternde Begegnung, die den Bann brach. Die Geschichte steckt voller solcher Ereignisse. Szenenwechsel: September 1978, Camp David. Die Friedensverhandlungen zwischen dem ägyptischen Präsidenten Anwar as Sadat, dem israelischen Ministerpräsidenten Menachem Begin und dem US-Präsidenten Jimmy Carter haben sich festgefahren. Obwohl der Gipfel zu scheitern droht, werden Erinnerungsfotos von den drei Politikern gemacht. Zuerst signiert sie Präsident Sadat, dann Präsident Carter, wobei Carter auf die Karte für Begin auch den Namen von dessen Lieblingsenkelin schreibt.
„Als Menachem Begin diese Karte entgegennahm, soll er emotional tief, zu Tränen, berührt gewesen sein und mit Carter über seine Kinder, Enkelkinder und deren Zukunft gesprochen haben“, erzählt Renate Daniel. „Anschließend konnte Begin auf Sadat zugehen, nachdem er sich zunächst 10 Tage geweigert hatte. Vielleicht“ mutmaßt die Psychoanalytikerin, kam er durch die Karte in Kontakt mit Liebesgefühlen, Fürsorgeimpulsen für das Leben und die Zukunft, wer kann das schon sagen…
Heute sprechen längst wieder die Waffen, auch wenn die sich Gegner im Nahen Osten eine kurze Waffenruhe gönnen. Renate Daniel stellt die zentrale Frage in den Raum: „Wie wollen wir kollektive Feindbilder und Täter-Opfer-Konstellationen überwinden, wenn es bereits einzelnen Menschen schwerfällt, den Feind in sich selbst, etwa den eigenen Körper oder verhasste Persönlichkeitsanteile, anzunehmen oder auszuhalten?“ Unter den großen Konfliktthemen im öffentlichen Diskurs hebt sie „vor allem unsichere Beziehungen und Identitäten, prekäre oder bedrohte Arbeit, zu hohe Mieten, zu niedrige Renten, Umweltzerstörung, Klimaveränderung sowie die zunehmende soziale Ungerechtigkeit“ hervor. Was also tun? Wo findet man das hilfreiche Neue, die Alternative?
»Was man unterschätzt, was man nicht sieht, oder nicht an der richtigen Stelle sucht, müssen Mächtige nicht fürchten.«
Dr. Renate Daniel
Psychoanalytikerin, Programmdirektorin und Lehranalytikerin am C. G. Jung-Institut Zürich
„Es scheint“, sagt Daniel, „ein archetypisches Muster zu sein, dass der Keim des Neuen klein und lächerlich ist, üblicherweise nicht gleich entdeckt wird und auch nicht von dort kommt, wo man es vermuten würde.“ Alle drei Faktoren wirken beschützend: Was man unterschätzt, was man nicht sieht, oder nicht an der richtigen Stelle sucht, müssen Mächtige nicht fürchten. So kann Neues im Verborgenen heranwachsen, und immer mehr Menschen dafür gewonnen werden.
Auf der Suche nach etwas, was uns alle verbinden könnte, schweift Daniel nicht etwa in die Ferne und greift zu utopischen Konzepten. Sie schaut einfach in ihre unmittelbare Nachbarschaft: „So viele Menschen handeln bereits in einer Teilhabe- und Unterstützungskultur, etwa beim Carsharing, Kleider- oder Büchertausch, dem Wegschenken von Lebensmittel in öffentlich zugänglichen Schränken, Bürgernetzwerken, Nachbarschaftspflege, dem open Access als freiem Zugang zu Publikationen, genossenschaftlichen Wohnformen oder genossenschaftlicher Lebensmittelherstellung, etc."
Fürsorge und Gemeingut sind ein wichtiger Schlüssel für den Zusammenhalt. „Ein Sorgen nicht nur für die Natur, sondern auch für die emotionalen, geistigen und kulturellen Bedürfnisse der Menschen, vom Kindergarten an, kann eine präventive Kraft gegen Feindbilder und daraus folgenden Grausamkeiten entfalten“, ist Daniel überzeugt. Gabriele Winkler, Prof. für Arbeitswissenschaft und Gender Studies an der TU Hamburg fordert nicht ohne Grund eine „Care-Revolution“, bei der statt neoliberaler Profitmaximierung eine wechselseitige mitmenschliche Sorge im Zentrum gesellschaftlichen Handelns stehen.
Ist das eine Illusion? Eine Utopie? Nein, unterstreicht Daniel: „Es gibt bereits viele, kleine Projekte, deren Mitwirkenden weder im Rampenlicht stehen noch die Macht von Großkonzernen haben und oft wenig staatliche Unterstützung bekommen.“ Folgt man dem großen Psychoanalytiker C. G. Jung, so kommen die großen Erneuerungen von solchen Stillen im Lande, zudem nie von oben, sondern stets von unten. „Und das geschieht bereits vielmehr, als die erhitzen öffentlichen Debatten erahnen lassen.“ Nicht nur Feindbilder und Feinde – die es immer geben wird - sondern vor allem das gemeinsame Teilen und Tun, das miteinander und füreinander, bereichert das Leben. „Das macht mich vorsichtig zuversichtlich.“
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Dr. Verena Konrad leitet das Vorarlberger Architektur Institut vai. Dessen Grundidee: Baukultur betrifft alle Menschen. Deshalb fördert das via den gesellschaftlichen Diskurs nach Kräften. In der AK Reihe „Wissen fürs Leben“ spricht Verena Konrad am 5. Dezember ab 19:30 Uhr im Saal der AK über Architektur mit sozialem und ökologischem Anspruch. Im Interview lässt sie gegenwärtige Problemfelder und Entwicklungen Revue passieren.
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