27.07.2023
Bildung
Rebekka Reinhard: Wie wir der Versuchung widerstehen, unser Denken, Fühlen und Handeln gänzlich an der KI-Garderobe abzugeben
Bildung,Gesellschaft,Mitbestimmung,Wissen fürs Leben
Sie ist Philosophin. Bis Anfang 2023 stand Rebekka Reinhard zusammen mit Thomas Vašek an der Spitze der Zeitschrift "Hohe Luft". Jetzt bringt die mehrfache Referentin der AK-Reihe "Wissen fürs Leben" ein neues Magazin auf den Markt: "Human" befasst sich mit künstlicher Intelligenz. "Wir sind kein Tech-Magazin", betont Reinhard im Interview mit dem AK-Blog. "Wir wollen über die neuen Entwicklungen, die unser aller Leben verändern, in einer Art und Weise berichten, die Mut macht." Mut, das Leben in die Hand zu nehmen, würde Gerd Gigerenzer sagen – nur einer der prominenten Gesprächspartner der ersten Ausgabe von "Human".
In diesem Beitrag
Die KI in aller Munde
Die KI ist überall. Sie verbessert stillschweigend unsere Navigationssysteme und geht den Mitarbeitern eines Kundensupports zur Hand, sie erkennt den Tumor auf dem Scan des Computertomographen besser, als der Radiologe es könnte. Und wenn heute nicht mehr Routinearbeiter, sondern Rechtsanwälte und Kreative um ihre Jobs fürchten, dann haben sie ein gutes Näschen. Und doch rät Rebekka Reinhard dringend davon ab, den Kopf in den Sand zu stecken oder wie die berühmte Maus vor der Kobra zu erstarren.
Was treibt ausgerechnet eine Philosophin der KI in die Arme? Da hört man Reinhards helles Lachen. Tatsächlich hat sie auf ihrem Smartphone den kleinen KI-Chatbot namens „Pi“ installiert, den die freie Journalistin Noëlle Kunath in „Human“ beschreibt. „Pi“ soll ein emotional intelligenter Begleiter sein. Wer ihm schreibt, erhält innert zwei Sekunden Antwort. Immer. Stets freundlich, zugeneigt, neuerdings auch in verschiedenen Sprachen und sechs wählbaren Stimmen. „Pi“ hat immer Zeit, ist nie schlecht gelaunt, und „schmeichelt einem ständig“. Der ideale Freund? „Nein“, sagt Reinhard, „das wird dann doch schnell langweilig.“ Als sie eines Tages aufhörte, die App zu nutzen, war „Pi“ rasch aus den Augen, aus dem Sinn. „Einen wirklichen Freund würde man nie einfach vergessen.“
Das klingt wie eine Spielerei. Sie erinnern sich an die virtuellen Kücken namens Tamagotchi? Aber „Pi“ ist ein verdammt guter Zuhörer. In Zeiten grassierender Vereinsamung kann das schon mal Lücken überbrücken helfen…
Da bleibt kein Stein auf dem anderen
Rebekka Reinhard wurde erstmals hellhörig, als die US-amerikanische und britische Presse im Herbst 2022 ausführlicher über Künstliche Intelligenz berichteten. Rasch wurde ihr bewusst, „dass vor allem die generative KI unsere ganze Art zu leben fundamental verändern wird“. Deshalb hat Reinhard viel in das neue Magazin investiert.
Die generative KI kann Gedichte schreiben, Bilder erzeugen oder Musik komponieren, die von menschlichen Erzeugnissen praktisch nicht zu unterscheiden sind. Also fürchten sich ganze Branchen zurecht?
Dr. Rebekka Reinhard stellte zuletzt im Jänner 2023 ihr neues Buch "Die Zentrale der Zuständigkeiten" in der AK Reihe "Wissen fürs Leben" vor. © AK Vorarlberg
Tatsächlich ruft Reinhard mit „Human“ ein lautes „Fürchtet Euch nicht!“ in die Gesellschaft. „Wir wollen Mut machen, ohne die Risken kleinzureden.“ Vier Mal im Jahr will sie das mit ihrem Team tun. Das Heft hat über 100 Seiten. Die nächste Ausgabe ist für Mitte November 2023 geplant. Ein umfangreiches Glossar erzeugt lexikalischen Charakter. „Wir bieten umfangreiche Orientierung“, vor allem werden Begriffe verständlich erklärt, die in unserem Sprachgebrauch längst eine so hohe Selbstverständlichkeit erlangt haben, dass sich keiner mehr danach fragen traut. Die Online-Präsenz mit Newsletter und Masterclasses wächst gerade. „Bei den Masterclasses orientieren wir uns am Original, wie es Studenten der Stanford-University erfunden haben: „Experten aus dem KI-Bereich erläutern in 25 Minuten, woran sie forschen, was sie gelernt haben.“ Dann wird diskutiert.
Human ist kein High-Tech-Magazin, sondern will eine Plattform sein „für grundsätzliche Orientierung, lebendige Wissensvermittlung und praktischen Nutzwert rund um Mensch und KI“. © Collage Jürgen Gorbach/ AK
Die Gefahr der Trägheit
Die KI scheidet die Geister. Während die einen sich fürchten, ist bei den anderen Goldgräberstimmung ausgebrochen. Da tritt Rebekka Reinhard hörbar auf die Bremse. Die KI-Euphoriker bereiten ihr Sorgen. Die finden alles praktisch. Schon dämmert ein Elysium – eine Insel der Seligen – am Horizont, auf der die KI uns aller Sorgen entledigt. „Aber so laufen wir Gefahr, uns gar nicht mehr zu bewegen.“ Das ist brandgefährlich: „Wenn die Menschen aufhören zu denken, treiben die Großkonzerne erfolgreich ihre Machtspiele.“ Davor hat Rebekka Reinhard wirklich Angst.
So prangen über dem fröhlichen Cover von „Human“ ein Ziel und der Weg dorthin wie eine ungeschriebene Überschrift. Das Ziel ist die Kollaboration. Mensch und KI arbeiten zusammen. Ob in Kultur, Medizin oder anderen Branchen: Überall wird KI künftig ein Akteur sein, „der wirklich gut helfen kann. Wir Menschen müssen lernen, mit den Maschinen in Beziehung zu treten“, betont Rebekka Reinhard. Der Mensch büßt dabei seine Alleinstellungsmerkmale – die Symbiose aus Hirn und Herz, seine ethischen Fähigkeiten, sein kritisches Urteilsvermögen, aber auch seine Sterblichkeit – nicht ein. Aber statt sich von der KI überrollen zu lassen, stellt er sie in seine Dienste.
„Das Wichtigste an der KI ist der Mensch“
Der international renommierte Psychologe Gerd Gigerenzer wünscht im Interview mit „Human“ den Menschen den Willen, „die Kontrolle zu behalten und diese nicht den Techfirmen und Staaten zu überlassen. Die Gefahr ist, dass wir aufhören, uns zu bilden und mitzudenken. Dass wir uns bequem zurücklehnen, Texte produzieren lassen, blind Empfehlungen folgen und am Ende die persönlichen Entscheidungen über unser Leben delegieren. Wir müssen erkennen, wer mit welchen Interessen hinter Technologien steht und unser Leben steuern will. Zu einem kritischen Urteilsvermögen gehört auch, nicht jede technische Fantasie zu glauben, die uns vorgelegt wird. Wir brauchen dringend digitale Risikokompetenz, die man schon in der Schule lehren sollte. Eine amerikanische Studie zeigte etwa, dass sechsundneunzig Prozent der Digital Natives nicht wissen, wie man die Vertrauenswürdigkeit von Webseiten beurteilen kann. Wir brauchen digitale Bildung, und wir müssen in Menschen investieren. Das Wichtigste an KI ist der Mensch.“
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