Anton Pelinka
© St. Arbogast
2. August 2022
Bildung

Anton Pelinka: „Wir leben im relativ besten Österreich, das es je gab“

Bildung,Geschichte,Gesellschaft,Politik,Sozialpartnerschaft

Der Pandemie, der Rückkehr des Krieges nach Europa, allen innenpolitischen Querelen zum Trotz „leben wir im relativ besten Österreich, das es je gab“. Daran haben die Sozialpartner Anton Pelinka zufolge keinen kleinen Anteil. Dennoch ortet der Grandseigneur der österreichischen Politikwissenschaft viel Verbesserungs- und Diskussionsbedarf, über Österreichs Neutralität zuvorderst.

In diesem Beitrag

Anton Pelinka mag auf 80 Lebensjahre zurückblicken, das tut seinem Schaffensdrang keinen Abbruch. Sein jüngstes Buch hat er 2021 inmitten der Pandemie Paul Felix Lazarsfeld gewidmet. Diese Annäherung an eine der Gründerfiguren der empirischen Sozialforschung ist kein Zufall. Lazarsfeld hat zuletzt stark an Aktualität gewonnen. Und das kam so:

Inneres des stillgelegten Spinnereikomplexes mit Karderie und Putzerei (erbaut 1847 bis 1850, abgebrannt 1945) der Textilfabrik Marienthal nach Abtransport der Maschinen.
Inneres des stillgelegten Spinnereikomplexes mit Karderie und Putzerei (erbaut 1847 bis 1850, abgebrannt 1945) der Textilfabrik Marienthal nach Abtransport der Maschinen. © Hans Zeisel, AGSÖ


Ohne Job wächst die Apathie

Der gebürtige Wiener Jude, der noch vor dem Holocaust in die USA emigrierte, hat zusammen mit Marie Jahoda und Hans Zeisel 1933 in einer bahnbrechenden Studie die rund 1000 Arbeitslosen von Marienthal monatelang begleitet. Die Schließung einer Fabrik im Zuge der Weltwirtschaftskrise machte damals praktisch einen ganzen niederösterreichischen Ort arbeitslos. „Im Auftrag der AK sind die drei Wissenschaftler hingezogen und haben beobachtet: Worüber reden die Menschen? Was können sie noch einkaufen? Was essen sie? Nimmt die Wut überhand?“

Fazit: „Nein, Langzeitarbeitslosigkeit bewirkt nicht revolutionären Zorn, sie bewirkt Apathie. Man gibt auf. Man lässt sich fallen.“ Pelinka fasst die Essenz der Studie in knappe Worte: „Deutlich wird hier, dass die Krisenanfälligkeit des Kapitalismus nicht einer revolutionären Arbeiterbewegung nützt, sondern ihr schadet.“

Appell zu mehr Gelassenheit

Heute haben wir uns fast 90 Jahre später „an Frieden, Demokratie und Wohlstand gewöhnt“. Die Corona-Pandemie jedoch hat mit einer Heerschar von Langzeitarbeitslosen auch die Marienthalstudie wieder in Erinnerung gebracht. Das AMS Niederösterreich initiierte 2020 am selben Ort mit „Magma“ ein Modellprojekt mit Arbeitsplatzgarantie und brachte innerhalb weniger Monate alle 70 Langzeitarbeitslosen wieder in Arbeit.

„Was wir von Lazarsfeld lernen können ist ein schrittweiser Reformismus“, betont Pelinka, der gar nichts davon hält, dass alle Nase lang der Weltuntergang beschworen wird. „Es geschieht ja auch viel Gutes. Wir leben trotz allem im relativ besten Österreich und Europa, das es je gab. Das sollte uns ein bisschen Gelassenheit vermitteln.“ 

Die Sozialpartnerschaft ist in den Augen Pelinkas „ein wichtiger Teilerfolge der zweiten Republik“. Der Gewerkschafter Anton Benya und Wirtschaftskammerpräsident Rudolf Sallinger galten als Inbegriff dieses geschickten Zusammenspiels, das Österreich im Gegensatz zu andern Staaten über Jahrzehnte hinweg Arbeitskämpfe und Streiks erspart hat und in der Corona-Pandemie u.a. für die rasch ausverhandelte Kurzarbeit steht.

Abriss des Färberei-, Wäscherei- und Druckereikomplexes (erbaut 1881, 1887 und 1882, abgerissen 1930) der Textilfabrik Marienthal.
Abriss des Färberei-, Wäscherei- und Druckereikomplexes (erbaut 1881, 1887 und 1882, abgerissen 1930) der Textilfabrik Marienthal. © Hans Zeisel, AGSÖ


Wo Reformen nottun

Ortet Pelinka dennoch Reformbedarf? Ja, jede Menge:

Demokratie: „Die Parteien sollen endlich aufhören so zu tun, als würden sie Weltanschauungen produzieren. Die machen sich die Bürger schon alleine. Sie sind mündig zu wissen, was ihre Werte sind.“ Diese Variante der Parteiendemokratie ist überholt. „Die Kernfunktion von Parteien ist es, dass sie wählbares Personal rekrutieren. Das wird bleiben.“ 

Rolle der Medien: „Die Medien gefallen sich zunehmend darin, selber Recht zu sprechen.“ Pelinka zufolge brauchen wir dringend „eine größere Vielfalt und geringere Abhängigkeiten in der Medienlandschaft. Wir erleben derzeit, dass die Abhängigkeit mancher Organe von parteipolitisch motivierten Inseraten leider sehr groß ist.“ Als einziges Korrektiv ortet Pelinka „das Publikum, das auf andere Kanäle ausweicht“.  

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Parteienfinanzierung: „Wir haben in Österreich eine höchst unscharfe, unbefriedigende Lösung der Parteienfinanzierung.“ Das hat auch damit zu tun, dass die Parteien ihre Rolle neu finden müssen. „Früher konnte man sich unter den Schutzmantel der einen oder anderen Partei begeben. Man war daran gewöhnt, dass der Zugang zu Wohnraum und zur beruflichen Karriere dadurch erleichtert wird. Das bricht jetzt auf. Lange haben die Kinder gewählt, was ihre Eltern gewählt haben. Heute ist das anders. Die Vorhersage des Wahlergebnisses wird deshalb immer schwieriger. Der Blick auf die Sonntagsfrage ist ziemlich sinnlos.“  

Energieabhängigkeit: „Dass Österreich sich derart in eine Energieabhängigkeit von Russland gebracht hat, ist ein Verstoß gegen jede Neutralitätspolitik. Otto Habsburg hat sehr früh gewarnt, auch Karl Schwarzenberg, es gab mahnende Stimmen. Aber es war halt lange „in“, nach Moskau zu pilgern.  

Neutralität: „Es kann heute niemand mehr sagen, was die Substanz der österreichischen Neutralität ist, außer, dass wir uns das am schlechtesten gerüstete Heer Europas leisten.“ Pelinka fordert dringend dazu auf, die Neutralität zu überdenken und untermauert das mit einem geografischen Vergleich: „Uschgorod, die westlichste Stadt der Ukraine, liegt näher an der österreichischen Ostgrenze als Vorarlberg.“ 

Gerechter Krieg: „Ein undifferenzierter Pazifismus“ ist Pelinka zufolge „die schlechteste Antwort in einer Welt, in der es Ungerechtigkeit, Ungleichverteilung, Konflikte gibt.“ Deshalb hält er auch die Absage der Kirche an die Lehre vom gerechten Krieg für nicht sinnvoll. „Die Frage ist: Wer bestimmt, was ein gerechter Krieg ist?“ Denn „wer sich nicht wehren will, lädt dazu ein, dass man ihn überfällt“.

Marienthaler Arbeiter an der Feilbach-Brücke, Hauptstraße. Von links nach rechts: Franz Krátký (1862–1945), Josef Dienstl (1904–1960), Johann Tománek (1871–1957), Josef Thau (1901–1947) und zwei Unbekannte.
Marienthaler Arbeiter an der Feilbach-Brücke, Hauptstraße. Von links nach rechts: Franz Krátký (1862–1945), Josef Dienstl (1904–1960), Johann Tománek (1871–1957), Josef Thau (1901–1947) und zwei Unbekannte. © Hans Zeisel, AGSÖ



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