Prof. Karl-Josef Kuschel findet einen Lösungsansatz des Menschheitsdramas von immer wiederkehrender Gewalt in der zweiten Chance, die Hilde Domin propagiert: „Damit es anders anfängt zwischen uns allen!“
Prof. Karl-Josef Kuschel findet einen Lösungsansatz des Menschheitsdramas von immer wiederkehrender Gewalt in der zweiten Chance, die Hilde Domin propagiert: „Damit es anders anfängt zwischen uns allen!“ © Salzburger Festspiele, Disputationes
25.07.2025
Bildung

Karl-Josef Kuschel über die Aktualität des Brudermords von Kain und Abel

Begegnung,Bildung,Gesellschaft,Kultur,Wissen,Wissen fürs Leben

Wir haben uns schon wieder an den Krieg gewöhnt. Weil der Mensch von Zeit zu Zeit halt zur Bestie wird? Der Tübinger Theologe Karl-Josef Kuschel hält dagegen. Aber leicht ist das nicht.

Es muss halt so sein. Muss es so sein? Leicht könnte man auf den Gedanken verfallen, dass das Morden in der Welt Naturgesetz sei. Karl-Josef Kuschel denkt an die Ukraine, an Israel und Gaza, Israel und den Iran. Und die Bibel scheint eine Art Gott gegebener Weltorgie der Gewalt auch noch zu unterfüttern. 

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Die Salzburger Disputationes werden jedes Jahr mit viel Gespür von der gebürtigen Feldkircherin Dr. Claudia Schmidt-Hahn in Szene gesetzt. Frauen und Männer aus Wissenschaft und Kultur haben sich im Rahmen der Salzburger Festspiele 2025 dem Schicksal gewidmet. Prof. Hans-Josef Kuschel zählt zu den profiliertesten Stimmen im deutschsprachigen Raum an der Schnittstelle von Literatur, Religion und interreligiösem Dialog.  In Salzburg sprach er über das „Schicksal Brudermord“ – zur Aktualität von Kain und Abel in der Literatur des 20. Jahrhunderts.

In diesem Blog:

  1. Bin ich der Hüter meines Bruders?
  2. "Störfall" Mensch
  3. "Abel, steh auf!"
  4. Zur Person Karl-Josef Kuschel
Die kostbaren Tapisserien des Salzburger Doms erzählen den Sündenfall und den Brudermord. Sie wurden in der Manufaktur des Jan Aerts (tätig von 1614 bis 1635) in Brüssel, in langwieriger Handarbeit aus Wolle und Seide gewirkt.
© Thomas Matt, AK Vorarlberg
Die kostbaren Tapisserien des Salzburger Doms erzählen den Sündenfall und den Brudermord. Sie wurden in der Manufaktur des Jan Aerts (tätig von 1614 bis 1635) in Brüssel, in langwieriger Handarbeit aus Wolle und Seide gewirkt. © Thomas Matt, AK Vorarlberg

„Gerade einmal vier Menschen sind auf der Welt“, liest Kuschel in der Urgeschichte der hebräischen Bibel, „da liegt schon einer erschlagen am Boden. Welch ein Auftakt für eine heilige Schrift. Sie ist von einem schonungslosen Realismus.“

Bin ich der Hüter meines Bruders?

Kuschel spricht von Kain und Abel, dem tragischen Brüderpaar. Der eine findet Gefallen vor Gott, der andere nicht. Schließlich erschlägt Kain seinen Bruder, und als Gott ihn nach Abel fragt, antwortet er trotzig: „Bin ich denn der Hüter meines Bruders?“ So fängt der Bibel zufolge alles an. Seither reiht sich Brudermord an Brudermord: In den Konzentrationslagern der Nazi-Zeit, im Gulag der Stalin-Ära, in Ruanda, in Ex-Jugoslawien oder heute in der Ukraine, in Israel, Gaza, im Iran… 

Karl-Josef Kuschel hat zu lange in Tübingen Theologie gelehrt, um das höchst fragwürdige Gottesbild dahinter zu übersehen: Es gibt also Abel-Menschen – in Gottes Augen wohlgefällig – und Kain-Menschen, die von Gott verworfen werden. Aber warum? „Der Urtext sagt nichts dazu.“ Die Leser:innen bleiben allein mit der Frage: „Warum erschafft Gott den Menschen als sein Abbild und befähigt ihn gleichzeitig zum Brudermord?"

In die Salzburg-Kulisse locken die Disputationes jedes Jahr zahlreiche Besucher:innen.
In die Salzburg-Kulisse locken die Disputationes jedes Jahr zahlreiche Besucher:innen. © Thomas Matt, AK Vorarlberg

Der deutsche Maler und Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer geht noch weiter. Der Sohn jüdischer Eltern hat 1945 als Simultandolmetscher in den Nürnberger Prozessen das Grauen im KZ hautnah nachvollzogen. Er klagt Gott an. Hildesheimer kann in den Zeugenaussagen der Nürnberger Prozesse lesen, wie Menschen in sich monströse Potenziale entdecken, und er kommt zum Schluss: Gott ist Teil des Problems des Bösen. Er trägt das Kainsmal auf der Stirn. Warum gibt es das Böse überhaupt? Warum gibt es eine Menschheit, in der die Potenziale der Selbstzerstörung die Oberhand gewinnen können?

"Störfall" Mensch

Wie die Menschwerdung des Menschen missriet, dafür findet Kuschel Texte bei Christa Wolf. Sie zählte zu den bedeutendsten Schriftstellerpersönlichkeiten der DDR. In ihren Büchern „Kassandra“ und „Störfall“ wird sie überdeutlich: Sie lässt die antike Seherin wieder auferstehen: Verzweifelt hat sie die Trojaner vor der Kriegslist der Griechen gewarnt, aber sie wurde nicht ernst genommen. „Seit Homers Zeiten wird der Literatur die Kassandra-Rolle zugeschrieben“, sagt Kuschel, „aber wer nimmt schon die Dichter:innen ernst?“ In ihrem Buch „Kassandra“ sagt Christa Wolf voraus, was Frauen in späteren Jahrhunderten widerfahren wird: Sie werden zum Objekt gemacht. 

Ihr Buch „Störung“ schrieb Christa Wolf, nachdem die atomare Bedrohung am 26. April 1986 auf unerwartete Weise in Tschernobyl Wirklichkeit geworden war. Die Explosion von Reaktorblock 4 setzte große Menge radioaktiver Stoffe frei, die im Wortsinn in Windeseile über Europa trieben. Weil sie in der DDR nicht frei schreiben durfte, wies Christa Wolf verdeckt auf die paradoxe Verbindung von Erfinden und Töten hin. Sie schreibt vom „strahlenden Himmel“, und sie stellt Fragen: Ist der Mensch wesensimmanent sein eigener Feind? Heute steht die Schutzhülle des geborstenen Reaktors unter Drohnenbeschuss…

"Abel, steh auf!"

Kain und Abel also, wohin das Auge schaut. Doch, es könnte auch anders sein. Hilde Domin kam 1909 in Köln zur Welt. Als Jüdin floh sie ins Exil und lebte von 1940 bis 1952 in Santo Domingo. 1970 schrieb sie ihr Gedicht „Abel steh auf!“ Darin skizziert die „Möglichkeitskünstlerin“ eine zweite Chance. Was wäre, wenn…? Was wäre, wenn Abel sich erneut erheben würde? Wenn Kain noch einmal die Chance hätte, richtig zu antworten: Nämlich „ich bin der Hüter meines Bruders! Wie sollte ich es nicht sein?“ Dann müssten sich die Kinder Abels nicht mehr fürchten, und sie selber, die dem Holocaust entrann, schreibt: „Ich fürchte mich täglich!“

Deshalb: „Abel, steh auf, damit es anders anfängt zwischen uns allen!“

Zur Person Karl-Josef Kuschel

Prof. Dr. Dr. h.c. Karl-Josef Kuschel (77) war von 1995 bis 2013 Professor für „Theologie der Kultur und des interreligiösen Dialogs“ an der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Tübingen und Ko-Direktor des Instituts für ökumenische und interreligiöse Forschung. 

Karl-Josef Kuschel hat sein neuestes Buch Thomas Mann gewidmet.
Karl-Josef Kuschel hat sein neuestes Buch Thomas Mann gewidmet. © Verlag, Patmos

Zuletzt erschienen sind: Unser Geist ist Weltgeist. Stefan Zweig und das Drama eines jüdischen Weltbürgertums (2024) und Weltgewissen. Religiöser Humanismus in Leben und Werk von Thomas Mann (2025). Denn in den großen Krisen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts thematisiert Thomas Mann in seinem Werk immer wieder Grundfragen der menschlichen Existenz. Aus dem Exil kämpft er mit seinen Mitteln für das jüdisch-christliche Ethos als Widerstands- und Orientierungskraft gegen die Verrohung des Lebens durch Faschismus, Rassismus und Militarismus. Stefan Zweig wiederum war einer der meistgelesenen Autoren seiner Zeit. Nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs verstand er sich als Europäer und Weltbürger. Einerseits aus einem humanistischen Bildungsideal heraus, andererseits leitete Zweig sein Weltbürgertum bewusst aus seiner jüdischen Herkunft und den Quellen des Judentums ab.

Karl-Josef Kuschel ist außerdem Präsident der Internationalen Hermann Hesse Gesellschaft e. V

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