27.8.2024
Bildung
Die größte Freiheit wohnt im eigenen Herzen
Bildung,Gesellschaft,Kultur,Mitbestimmung,Nachhaltigkeit,Teilhabe,Wissen,Wissen fürs Leben
Wir sollten wieder Utopien entwickeln. Der deutsche Autor und Übersetzer Ilija Trojanow meint dieses „Das kann doch nicht alles gewesen sein“. Der Satz greift Herrschaftsstrukturen an: Der neoliberale Kapitalismus ist wie die Herrschaft von früher davon überzeugt, dass er ohne Alternative ist. Was für ein Irrtum!
In diesem Beitrag
Dies ist der dritte und letzte Tag der Salzburger Disputationes, die jedes Jahr mit viel Gespür von der gebürtigen Feldkircherin Dr. Claudia Schmidt-Hahn in Szene gesetzt werden. Frauen und Männer aus Wissenschaft und Kultur haben sich im Rahmen der Salzburger Festspiele von der Ungewissheit unserer Tage über die Zuversicht bis hin zur Verheißung durchgeackert. Die ist heute dran. Trojanow gibt ihr den Namen Utopie. Er hält sie für notwendig. Sie hat ihren Ursprung in uns.
„Stellen Sie sich vor: Sie sind in einer Zelle – lebenslänglich.“ Da sind keine Fenster. Die Türe ist verschlossen. Sie träumen. Mit offenen Augen. Sie träumen von einer Welt ohne Gefängnis. „Und während sie träumen, fallen die Mauern ab. Sie sind frei, gehen hinaus.“ So erfüllt sich Verheißung.
Am freiesten im Gefängnis
Reine Theorie? Trojanow fuhr mit 60 alten Männern, die das bulgarische Todeslager Belene durchlitten hatten, erneut dorthin. „Auf der Fahrt diskutierten wir das Thema Freiheit.“ Alle waren sich darin einig: „Am freiesten waren sie damals im Gefängnis.“ Aber warum? „Weil sie sich befreit hatten von den unzähligen kleinen Unfreiheiten des Lebens“, sagt Trojanow. „Ihnen konnte niemand mehr etwas wegnehmen.“
Anderes Beispiel: Ein chinesischer Autor und Dissident spielte vor Tagen bei einem gemeinsamen Termin eine einfache Bambusflöte. Trojanow war verwundert. „Ein alter Mönch hat mir das im Gefängnis beigebracht“, erzählte sein Gegenüber: „Diese Flöte schenkt Dir wirkliche Freiheit. Wenn Du sie spielst, wird sie Dich befreien von all der Gewalt, die Dir angetan wurde."
Trojanow unterstreicht damit: „Das Utopische beginnt immer in unserer Fantasie. Die Utopie nimmt ihren Anfang im Kopf und im Herzen. Dort gibt es die größte Freiheit.“
Mehr als bloße Träumerei
Dass Utopie mehr ist als bloße Träumerei, lehrt die Geschichte. „Utopien sind meistens konkret: Ich möchte, dass alle Frauen wählen dürfen. Das ist ganz konkret.“ Aber die Utopie ist auch „vermessen, völlig absurd“. Darin liegt ihre Stärke.
Als die Quäker in England ihre erste Initiative zur Abschaffung der Sklaverei setzten, nahm sie niemand ernst. „Es hat 50 Jahre lang gedauert, bis das britische Parlament das entsprechende Gesetz verabschiedet hat.“
Von einer Utopie zur nächsten
Diesen Kampf hatten überwiegend die Frauen organisiert. „Geredet haben bei den Veranstaltungen die Männer.“ Das sollte sich ändern. „So hat sich aus der einen die andere Utopie entwickelt: Der Kampf um die Frauenwahlrechte, der erneut 50 Jahre in Anspruch nahm.
Das Audienzzimmer in den Prunkräumen der Salzburger Erzbischöfe. Es ist nicht per Zufall der prunkvollste Raum im Salzburger Domquartier und erzählt beredt davon, wie Macht ihren Status quo zu erhalten sucht. Für Ilja Trojanow führt „unsere panische Verteidigung dessen, was wir schon haben“ zwangsläufig ins Verderben. © Thomas Matt, AK Vorarlberg
Utopie bedeutet für Trojanow das Ausloten des menschlichen Potenzials. „Wir könnten mehr sein.“ Sie ist nicht die Vision des Unmöglichen, sondern „die Vision des Nicht-Unmöglichen“. Deswegen ist die allgemeine Erklärung der Menschenrechte noch immer Utopie. „In keinem Land der Erde ist sie bis heute vollständig umgesetzt.“
Wider die Wohlstandsverwahrlosung
Utopie glaubt – so Trojanow – an eine generelle Verbesserung der Verhältnisse, „immer eingedenk dessen, dass Umsetzung ein gemeinsamer Weg ist, der noch verhandelt werden muss“. Es geht ganz konkret darum, wie man als Individuum zur Welt steht. Dazu müssen wir alles engstirnige Ideologische ablegen. Das schließt auch „unsere panische Verteidigung dessen, was wir schon haben“ mit ein. Auf seiner letzten Indienreise hat Trojanow niemanden jammern hören. Obwohl die Menschen arm sind. Sie tragen eine kleine Utopie im Herzen, wenn sie täglich ums Überleben kämpfen. „Der Pessimismus bei uns ist nichts anderes als Wohlstandsverwahrlosung.“
Der Lohn für das Wagnis der Utopie ist groß: „Wir versöhnen uns mit uns selbst, weil wir die fremdbestimmten Zwangsjacken abstreifen.“ Die Utopie wird wahr, wenn das Ich und die Gesellschaft gemeinsam um das Gerechte und das wahre Miteinander kämpfen. Dazu braucht es zweierlei: Eine vernünftige Fantasie ohne Scheuklappen, die aber auch geerdet ist. Und die intelligente Empathie. Die setzt nicht dort an, wo wir tagtäglich von den medialen Schreckensbildern erschlagen werden, sondern u. U. beim bettelnden Obdachlosen um die Ecke: Dem könnte man ja einen Euro geben und dann darüber nachdenken, wie man Obdachlosigkeit an sich bekämpfen kann.
Utopie bedeutet für Ilija Trojanow das Ausloten des menschlichen Potenzials. „Wir könnten mehr sein.“ Sie ist nicht die Vision des Unmöglichen, sondern „die Vision des Nicht-Unmöglichen“.
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