AK Präsident Bernhard Heinzle zu Besuch in der Integra, die sich um Vorarlberger Langzeitarbeitslose kümmert. Diesen Menschen eine dauerhafte Perspektive zu geben, wäre so wichtig, scheitert aber am politischen Willen. Auch dem österreichischen Vorzeigeprojekt in Marienthal war trotz Erfolg nur der Projektzeitraum vergönnt.
AK Präsident Bernhard Heinzle zu Besuch in der Integra, die sich um Vorarlberger Langzeitarbeitslose kümmert. Diesen Menschen eine dauerhafte Perspektive zu geben, wäre so wichtig, scheitert aber am politischen Willen. Auch dem österreichischen Vorzeigeprojekt in Marienthal war trotz Erfolg nur der Projektzeitraum vergönnt. © Jürgen Gorbach, AK Vorarlberg
24.07.2024
Arbeit

Modellprojekt Arbeitsplatzgarantie: Drei Jahre lang ein Erfolg und dann das „Aus“

AMS,Arbeit,Arbeitslosigkeit,Interessenvertretung,Sozialstaat

Mitten in der Coronakrise trat das AMS Niederösterreich mit einem bemerkenswerten Versuch an: Drei Jahre lang galt im Ort Gramatneusiedl ab Oktober 2020 eine Jobgarantie: Ein Job für jede:n Arbeitslose:n. Freiwillig, ohne Zwang. Das Projekt war ein Erfolg. Es fand weltweite Resonanz. Im Frühjahr 2024 wurde es trotzdem in aller Stille eingeackert.

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Fast mutet es wie ein klassisches Stück heimischer Kabarettkultur an: Als im März 2024 die EU-Kommission das österreichische „Modellprojekt Arbeitsplatzgarantie Marienthal (MAGMA)“ als besonders förderungswürdig auf den Schild hob, ging es gerade zu Ende. Dabei waren auch UNO und die OECD voll des Lobes. Die Evaluierung der Universität Oxford und der Universität Wien hatte dem Projekt sogar einen besseren Verlauf bescheinigt als erwartet. Aber der Reihe nach:

Warum „Marienthal“?

Marienthal – so heißt ein Ortsteil der niederösterreichischen Marktgemeinde Gramatneusiedl südöstlich von Wien. Gegründet wurde die Arbeitersiedlung, nachdem hier eine Textilfabrik dauerhaft Lohn und Brot versprach. Seit 1830 wuchs aus einer Flachspinnerei eine der größten Texilfabriken der Monarchie empor. Doch mit dem Zusammenbruch des Habsburgerreiches verlor die Fabrik ihre Absatzmärkte in Ungarn. 1930 wendete sich das Blatt endgültig. Wegen der Weltwirtschaftskrise musste die Fabrik schließen, 1300 Menschen verloren ihre Arbeit.

Die bildstarke Wiener Zeitschrift „Der Kuckuck“ machte sich mit Sozialreportagen einen Namen, unter anderem über die Arbeitslosen von Marienthal.
Die bildstarke Wiener Zeitschrift „Der Kuckuck“ machte sich mit Sozialreportagen einen Namen, unter anderem über die Arbeitslosen von Marienthal. © Österreichische Nationalbibliothek, Anno

Die Sozialwissenschaftler:innen Marie Jahoda, Paul Felix Lazarsfeld und Hans Zeisel haben damals zusammen mit einem zwölfköpfigen Team die Arbeitslosen von Marienthal über Monate hinweg begleitet und die Folgen des Arbeitsplatzverlustes dokumentiert. Die „Marienthalstudie“, die erst in den 1960er Jahren zu einem Klassiker der empirischen Sozialforschung avancierte, war aus Geldern der Arbeiterkammer und der Rockefeller Foundation finanziert worden.

Das Forscher:innenteam erstellte nicht nur Statistiken und legte Katasterblätter an. Die Soziolog:innen führten Befragungen durch und notierten Lebensläufe, sie maßen Gehgeschwindigkeiten und analysierten Schulaufsätze. Ihr Fazit: der dauerhafte Verlust von Arbeit weckt nicht den Widerstand, sondern führt die Menschen geradewegs in Apathie, Vereinsamung und Resignation.

Derselbe Ort, ein neues Projekt

Der niederösterreichische AMS-Geschäftsführer Sven Hergovich, der später für die SPÖ in die Landespolitik ging, wählte den geschichtsträchtigen Ort für ein neues Projekt aus, über das selbst CNN und der „New Yorker“ berichteten.

In Gramatneusiedl bekam ab Oktober 2020 jede:r, der bzw. die länger als neun Monate arbeitslos war, einen geeigneten Job angeboten – entweder eine geförderte Stelle bei einem bestehenden Betrieb der Region oder in einem sozialen Unternehmen des AMS. Es bestand kein Zwang, das Angebot auch anzunehmen. Hergovich stellte die Betroffenen vor die Alternative: Arbeit mit Jobgarantie oder Langzeitarbeitslosigkeit. 

Das Projekt sollte sich zudem rechnen. 2018 kostete ein:e Langzeitarbeitslose:r den Staat 30.000 Euro pro Jahr. Im Projekt MAGMA wurde dieses Geld nicht zur Finanzierung der Langzeitarbeitslosigkeit, sondern zur Finanzierung von kollektivvertraglich entlohnten Arbeitsplätzen verwendet.

Im März 2021 war AMS-Niederösterreich-Geschäftsführer Sven Hergovich zu Gast im Live-Talk der AK Vorarlberg und schilderte die Rahmenbedingungen des MAGMA-Projekts. Zu diesem Zeitpunkt waren in Marienthal bereits alle Langzeitarbeitslosen wieder beschäftigt.

Selbstwirksamkeit wuchs

Nach drei Jahren dokumentieren die wissenschaftliche Begleitstudie „Marienthal.reversed“ einen Erfolg, der selbst die kühnsten Erwartungen übertraf. Die teilnehmenden Langzeitarbeitslosen erfuhren Wertschätzung und Anerkennung. Menschen, die längst gelernt hatten, sich als zu alt und zu teuer zu empfinden, wurden wieder zufriedener, waren jetzt finanziell abgesichert. Das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten wuchs wieder. Auch Menschen mit starken gesundheitlichen Einschränkungen fanden ihren Platz und neue Perspektiven. In Vorarlberg, wo die AK ein eigenes Beschäftigungsmodell für Langzeitarbeitslose vorschlug, wurde das Projekt MAGMA mit großem Interesse verfolgt. 

AK Präsident Bernhard Heinzle: Wir werden unsere Unterschriften nicht unter solche irrwitzigen Sparpläne setzen.
AK Präsident Bernhard Heinzle © Lucas Hämmerle, AK Vorarlberg

„Überzeugende Antwort“

„Die Kernfrage lautet bis auf den heutigen Tag: Wollen wir die Arbeitslosigkeit finanzieren und verwalten, oder in Arbeit investieren“, sagt AK Präsident Bernhard Heinzle, „und das niederösterreichische Projekt gibt eine überzeugende Antwort.“ Dass sich auch Vorarlbergs AMS-Geschäftsführer Bernhard Bereuter langfristige Beschäftigung für die rund 1.400 Vorarlberger Langzeitarbeitslosen wünscht, muss er nicht gesondert betonen. Aber es wird beim Wunsch bleiben.

Gegenwärtig setzt die AK alles daran, die drohende Kürzung des AMS-Budgets abzuwenden. Da ist man von Projekten wie MAGMA Lichtjahre entfernt. So erfolgreich sich auch immer sein mögen.

Ein Mann, der in die Kamera blickt


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