Arbeiter auf einem Wagon
In den 1920er-Jahren wurde die Arlbergbahn elektrifiziert, da die Kohlebergwerke nach dem Zerfall der Monarchie im Ausland lagen und Kohle teurer wurde. Wasserkraft dagegen war lokal reichlich vorhanden. Auf dem Bild ist eine Arbeitsgruppe von 1920 zu sehen – dem Gründungs jahr der Arbeiterkammer. © IHSf Archiv
4.7.2025
Soziales

KW 9, oder: die Woche, die ­alles ­ver­änderte

Arbeit,Erfolg,Geschichte,Gesellschaft,Solidarität,Sozialpartnerschaft,Vorarlberg

Es ist der 26. Februar 1920, als die Konstituierende Nationalversammlung der Republik Österreich – einstimmig – ein Gesetz beschließt, das Geschichte schreiben wird: das Arbeiterkammergesetz. Ein unscheinbares Datum in Kalenderwoche 9, und doch: die Geburtsstunde einer Jahrhundertinstitution.

Mit dem Beschluss des Arbeiterkammergesetzes wird die gesetzlich verankerte Interessenvertretung für Arbeitnehmer:innen in Österreich ins Leben gerufen. Zum ersten Mal in der Geschichte erhalten arbeitende Menschen eine Stimme, die nicht nur gehört, sondern zu einer Institution wird. Was heute vielen selbstverständlich erscheint, ist vor 105 Jahren ein mutiger Schritt in unsicheren Zeiten.

Die Gesellschaft ist 1920 geschwächt: Der Erste Weltkrieg liegt kaum zwei Jahre zurück, die Monarchie ist zerfallen, die wirtschaftliche Lage katastrophal. Inflation, Massenarbeitslosigkeit und Wohnungsnot prägen das Alltagsleben breiter Bevölkerungsschichten. In solch einem prekären Umfeld Arbeitnehmer:innenrechte zu verankern und den sozialen Dialog institutionell abzusichern, ist ein starkes politisches Signal. Die Gründung der Arbeiterkammern ist eine bewusste Entscheidung für Demokratie, Mitsprache und sozialen Ausgleich. Dass das neue Magazin der Arbeiterkammer Vorarlberg den Namen »KW9« trägt, ist eine Referenz auf dieses wegweisende Datum und ein Zeichen selbstbewusster Erinnerung.

Ein Jahr später folgt die Gleichstellung mit den Handelskammern, und im selben Jahr finden die ersten AK Wahlen statt. Auch in Vorarlberg beginnt im Jahr 1920 die Geschichte der Arbeiterkammer. Das kleine Bundesland im Westen war bereits im 19. Jahrhundert eines der am stärksten industrialisierten Kronländer der Habsburgermonarchie. Vor allem die Textil- und Maschinenbauindustrie sind – begünstigt durch die Nähe zur Schweiz und zu Süddeutschland – wichtige Stützen der regionalen Wirtschaft. Einige Betriebe schaffen es, Arbeitsplätze zu sichern oder sogar neue zu schaffen. Dennoch ist die wirtschaftliche Situation nach dem Krieg verheerend. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die sozialen Spannungen steigen. 

In dieser Phase wird die Arbeiterkammer zu einer tragenden Säule, zur Hoffnungsträgerin, zur Vertreterin derjenigen, die sonst kaum Gehör finden. Vorarlberg ist zugleich ein Sonderfall. Die politischen und gesellschaftlichen Strukturen unterscheiden sich deutlich vom Osten Österreichs. Die Industriebetriebe sind oft kleinstrukturiert und familiengeführt, die Bindung zwischen Arbeitgebende und Arbeitnehmer:innen ist enger, persönlicher. Die großen Konfliktlinien der Klassenpolitik verlaufen hier leiser, in Vorarlberg tobt kein »Klassenkampf«.

Eine Frau am Büroschreibtisch, 1920
© IHSf Archiv


Vorarlberg ist anders – die Rolle der christlichen Soziallehre

Anders als in den Industriezentren wie Wien, Linz und Graz ist die Vorarlberger Arbeiterschaft stark christlich geprägt. Viele Menschen orientieren sich an der katholischen Soziallehre, die Solidarität, Verantwortung und Gemeinwohl in den Mittelpunkt stellt. Das prägt auch die frühe politische Kultur der Region, die oft weniger konfrontativ ist.

Das Ergebnis der ersten AK Wahl 1921 fällt in Vorarlberg entsprechend aus. Die christlichen Gewerkschaften erhalten in der Arbeitersektion zehn der 24 Sitze, in der Angestelltensektion drei von sieben. In dieser konstituierenden Phase ist die Kammer geprägt vom Wunsch und von der Notwendigkeit des Ausgleichs und des sozialen Dialogs. Die Arbeiterkammer sollte zur Brückenbauerin zwischen den Interessen werden – ein Selbstverständnis, das in Vorarlberg bis heute besteht.

Von 1920 bis heute: eine Stimme, die trägt

Seit ihrer Gründung im Jahr 1920 hat sich die Arbeiterkammer von einer gesetzlichen Interessenvertretung zu einer umfassenden Partnerin für Arbeitnehmer:innen entwickelt. Über die Jahrzehnte ist sie in ihrer Rolle und ihren Aufgaben stetig gewachsen. Heute berät, informiert und unterstützt sie ihre Mitglieder nicht nur bei arbeitsrechtlichen Fragen, sondern auch in den Bereichen Konsum, Bildung, Steuern, berufliche Weiterentwicklung, Pflege, Wohnen und finanzielle Sorgen. Gleichzeitig beobachtet sie den Arbeitsmarkt, bringt Fachwissen in politische Prozesse ein und macht Missstände sichtbar – stets im Interesse der Vielen.

Was heute selbstverständlich wirkt, war und ist in Wahrheit ein langer Weg. Die Geschichte der Arbeiterkammer, die zwischen 1934 und 1945 von den Austrofaschisten und den Nationalsozialisten zerschlagen und nach dem Zweiten Weltkrieg wiedererrichtet wurde, zeigt eines klar: Die gesetzliche Interessenvertretung der Arbeitnehmer:innen ist keine Selbstverständlichkeit.

Gerade in Zeiten, die von wirtschaftlichen Unsicherheiten, steigendem Druck im Job und gesellschaftlichen Umbrüchen geprägt sind, braucht es starke Partnerinnen. Die Arbeiterkammer ist so gefragt wie selten zuvor: als Anlaufstelle, als Schutzschild – und als Stimme für Gerechtigkeit.

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