Bildung
Barbara Schmitz: Man hofft nie genug
Lange war sie totgeschwiegen. Jetzt taucht die Hoffnung in der Philosophie wieder auf. „Zu Recht“, findet Barbara Schmitz, die an der Universität Basel unterrichtet. Denn „man hofft nie genug“.
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Ende August lud die Zürcher Psychoanalytikerin Jeannette Fischer für drei Tage nach Bad Ragaz zum Symposium „Der Schuld auf der Spur“. Denn wer kennt sie nicht, die Schuld und die leidigen Schuldgefühle? Die Schuld spaltet das Leben in Gut und Böse. Wir haben die Rollen von Herr und Knecht, das Richten und Bestrafen längst verinnerlicht. Die Schuld erzeugt Gefälle. Augenhöhe geht anders. Und man fragt Gäbe es nicht Alternativen? Die Berliner Anthropologin Anna-Céline Sommerfeld ist davon überzeugt.
Schulden, nichts als Schulden: Kinder schulden ihren Eltern Gehorsam (denken die…). Menschliche Beziehungen beruhen oft auf Schuld, was Staaten auf weltwirtschaftlicher Ebene an Schulden aufgehäuft haben, übersteigt ihre finanzielle Kraft um ein Dreifaches. Ganz scheint es so, als wäre es ein Ding der Unmöglichkeit für große Teile der Wirtschaftslehre, (ökonomische) Beziehungen über Schuld(en) hinauszudenken.
Anna-Céline Sommerfeld macht die fatalen Konsequenzen am Beispiel der Beziehung von Mensch und Natur deutlich. Sie spricht über kompensierte Flugkilometer. Immer mehr Menschen denken darüber nach, was ihre Urlaubsflüge oder beruflichen Reisen an Schadstoffen verursachen. Deshalb häufen sich die Angebote, den CO2-Ausstoß zu kompensieren. Das geht einfach: Der Umweltschaden wird finanziell bewertet und diese Summe anderweitig in Umweltprojekte investiert. Etwa in den Bau von Windenergie- und Solarkraftwerken oder Projekte für verbesserte Müllverwertung in Entwicklungsländern, die Aufforstung von Wäldern oder den Schutz von Mooren.
Soweit so gut. Oder doch nicht? Der Abtausch soll ein ungefähres Gleichgewicht schaffen. „Es geht um die Gleichwertigkeit der Dinge“ kritisiert Sommerfeld, „aber nicht um Beziehung.“ Mit anderen Worten: Wir behandeln die ganze Welt wie einen Marktplatz. Die Natur wird zum Dienstleister degradiert. Sie liefert Rohstoffe, Erholungsräume, spirituelle Impulse… Dass der Mensch die Rechnungen nicht bezahlt hat, das wird gerade zum Problem. Am 1. August schlug in Österreich für 2024 der Erdüberlastungstag, seither leben wir auf Pump. Würde die gesamte Menschheit so leben, wie die Bevölkerung in Österreich, dann bräuchten wir dafür jährlich 3,7 Erden um den Ressourcenverbrauch schultern zu können.
Was wir inszenieren, ist nur ein unpersönlicher Tausch. Wir nehmen an, dass die Kohlenstoffkompensationen alles wieder gut machen, aber wie lässt sich nur ein einzelner Baum mit all seinen Funktionen, seinem facettenreichen Beziehungsgeflecht im Wald, in Geld bewerten? „Kapitalistische Prozesse reduzieren die Beziehung zu unseren Lebensgrundlagen auf Zahlungen.“ Vorgegaukelt wird uns ein Nullsummenspiel, das zudem einen zutiefst kolonialen Charakter trägt.
Ganz anders funktioniert das Prinzip der Sorge: Es beruht auf Gegenseitigkeit und versucht nicht, Gleichwertigkeit herzustellen. Es ist bedürfnisorientiert, anerkennt die Andersartigkeit des anderen bei gleichzeitiger Anerkennung der Verbundenheit. „Es geht um das Knüpfen, Erhalten und Reparieren von Beziehungen“, sagt Sommerfeld. An die Stelle der Schuld tritt jetzt die Verantwortung.
Klingt allzu sozialromantisch? „Nun, wenn Sie einer älteren Person im Bus Ihren Sitzplatz anbieten, erwarten Sie auch keine Gegenleistung“ oder „wenn Sie jemand nach dem Weg fragt, werden Sie niemals sagen: Gerne, aber lass erst mal fünf Euro rüberwachsen!“ Eigentlich sind wir in Beziehungen, die keine Gegenleistung verlangen, gar nicht so schlecht eingeübt. Besonders eindrücklich erzählt Anna-Céline Sommerfeld das Beispiel der Bauern in den Bergen von Laos, die den Reis – ihre Lebensgrundlage – wie ein Kind behandeln, das eine Seele hat und der Fürsorge bedarf. Zu weit hergeholt? Nun, Gärtner:innen, die mit ihren Pflanzen reden, sind hierzulande keine Seltenheit.
Sorge statt Egoismus, Verantwortung statt Schuld: „So lernen wir, dass das Wohlergehen des Anderen für unser eigenes Wohlergehen sehr wichtig ist.“ Dieser Gedanke stand auch Pate in Sommerfelds gegenwärtigem Herzensprojekt, dem Aufbau einer Stadtteilgewerkschaft. Sie wächst dieser Tage in Lichtenrade. Der südlichste Ortsteil von Berlin Tempelhof zählt etwa 52.000 Einwohner:innen. Entstanden ist die Initiative im Herbst 2023 aus den klassischen Nöten heraus: Es gibt viel zu wenige Begegnungsräume, in denen nicht konsumiert werden muss. Alleinerziehende Mütter schlagen sich mit Behörden herum. Pflegende Angehörige werden mit ihren Sorgen alleingelassen. „Die arbeitenden Klassen sind von vielen Konflikten betroffen, nicht nur in der Berufswelt“, sagt Sommerfeld und betont: „Hier denken wir den Begriff der Solidarität ein bisschen weiter.“ Es gilt der Grundsatz: Wenn ein Problem einen trifft, dann betrifft es alle.
Und was tut die Stadtteilgewerkschaft? Sie beschreibt sich selber so: „Wir organisieren uns als Nachbar*innen und unterstützen uns in der Bewältigung unseres Alltags. Durch Beratungen und gemeinsame Aktionen setzen wir uns für konkrete Verbesserungen ein, sei es bei Ämtern und Behörden, gegenüber Vermieter und Hausverwaltung oder auf der Straße. Wir sind Arbeiter*innen, Erwerbslose, Azubis und Student*innen. Wir sind Geflüchtete, Migrant*innen der 1.,2.,X. Generation und weiße Deutsche. Wir sind Kinder, Eltern und Großeltern."
Hier wird Nachbarschaft konkret. Und noch einmal wird deutlich: Für einander Sorge tragen – das stellte als Handlungsprinzip das Zusammenleben der Menschen wie das Verhältnis des Menschen zu seiner Lebensgrundlage auf neue, sehr tragfähige Beine.
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Dr. Verena Konrad leitet das Vorarlberger Architektur Institut vai. Dessen Grundidee: Baukultur betrifft alle Menschen. Deshalb fördert das via den gesellschaftlichen Diskurs nach Kräften. In der AK Reihe „Wissen fürs Leben“ spricht Verena Konrad am 5. Dezember ab 19:30 Uhr im Saal der AK über Architektur mit sozialem und ökologischem Anspruch. Im Interview lässt sie gegenwärtige Problemfelder und Entwicklungen Revue passieren.
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