Schwarz-weiß-Protrait von Andreas Wassner
Überschreiten der eigenen Grenzen, Burnout, Depression – und zurück: Andreas Wassner ist heute glücklich. © Patricia Keckeis
30.12.2025
Arbeit

Ich bin ein glücklicher Mensch

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Schon als Student bringt Andreas Wassner sich an seine Grenzen – und weit darüber hinaus. Das Resultat: Burnout mit Ende zwanzig und Absturz in eine schwere Depression. Diese Erfahrung lässt ihn das ­Leben mit anderen Augen sehen. Trotzdem – oder gerade deswegen – sagt er heute von sich: »Ich bin ein glücklicher Mensch.«

Die Tür kann Andreas gerade noch hinter sich ­zu­sperren. Dann weicht auf einen Schlag all das Adrenalin aus seinem Körper, das ihn die letzten Monate auf den Beinen gehalten hat. Schluchzend gleitet er die Kabinenwand entlang zu Boden. Diese filmreife Szene hat sich in Andreas’ Gedächtnis eingebrannt. »Es war der 11. November 1999, ein Donnerstag«, sagt er, ohne auch nur eine Sekunde nachdenken zu müssen. Die Monate danach verschwimmen jedoch in seiner Erinnerung. Was war passiert, und wie konnte es so weit kommen? 

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Zwei Jahre zuvor

Andreas studiert an der Wirtschaftsuniversität Wien (WU) Betriebswirtschaft und genießt ansonsten das Leben als ungebundener Mittzwanziger in der Großstadt. Eines Tages klingelt das Telefon. Ein Freund, den der junge Vorarlberger von der Uni kennt, bietet ihm einen Job im Eventmanagement an. Es geht unter anderem darum, die jährlich stattfindende Wirtschaftsmesse an der Uni zu ­organisieren. Jedes Jahr kommen zu jener Zeit ­zahlreiche prestigeträchtige Unternehmen aus ­Österreich und zum Teil aus ganz Europa nach Wien, um bei dieser Messe die größten Talente der WU zu ­rekrutieren. 12.000 Besucher:innen sind an diesem Tag keine Seltenheit. Und Andreas, so ist sein Kumpel überzeugt, sei die perfekte Besetzung für ­diesen Job. Der Student fühlt sich geschmeichelt und sagt zu. 

Der Erfolg lockt

Zunächst läuft alles super. Der Job gefällt ihm und ­Andreas arbeitet sich gut ein – bis ein paar Wochen später die erste Bombe platzt: Das Kernteam werde ­demnächst andere Wege gehen. Er habe zwei ­Monate Zeit, sich ­darauf vorzubereiten, ein neues Team ­anzulernen und die Projektleitung bei Events wie der Wirtschaftsmesse zu übernehmen, hieß es. Derart ins kalte Wasser geworfen entscheidet sich Andreas, zu ­schwimmen. Er nimmt die Herausforderung an. Mehr noch, er setzt sich das Ziel, die beste Wirtschafts­messe auf die Beine zu stellen, die es an der WU jemals gab. »Ich war jung und gefühlt unzerstörbar«, erinnert sich ­Andreas. »Die Verlockung, mir selbst und auch den ­anderen zu ­beweisen, dass ich das schaffen kann, war riesig.« 

Schwarz-Weiß-Porträt von Andreas Wassner
© Patricia Keckeis

Tag und Nacht im Büro

Das darauffolgende Jahr verbringt er praktisch ­ausschließlich im Büro, arbeitet 300 Stunden und mehr ­jeden Monat. Was die Messe betrifft, zahlt der ­Einsatz sich aus. Die Veranstaltung ist ein voller Erfolg. Doch ­Andreas bekommt postwendend die Rechnung ­präsentiert: Panikattacken und Schlafstörungen sind die ersten Anzeichen dafür, dass eigentlich alles zu viel war. Zu dem Zeitpunkt jedoch lässt Andreas sich nicht ­ausbremsen. »Ich habe – wie so viele andere auch – noch immer mein imaginäres Superman-Shirt unter der ­Kleidung getragen und mich unverwundbar gefühlt«, ­erzählt er. »Ich habe mir gedacht: Jetzt bleibst du eben zwei Wochen daheim, und dann geht’s weiter.« Doch statt nach der Erholungspause mit seinen Kräften hauszu­halten, legt er nochmal eins drauf. »Mit der zweiten Messe wollte ich den Besucherrekord brechen«, sagt Andreas.

Netz und Nerven brechen zusammen 

Der Plan geht auf, doch der Preis ist dieses Mal noch höher, wie sich schon am Tag besagter Messe zeigen sollte. Noch bevor die WU ihre Tore für die Messebesucher:innen öffnet, sorgt eine technische Panne für Unruhe. Die Ausstellenden sind bereits vor Ort, die Stände werden bestückt und dann … kein Internet. »Das ist auf einer Messe so ziemlich der Super-GAU«, sagt Andreas. Gerade am Vorabend hatte er noch alles gecheckt – und dann das. Jede:r der 150 Ausstellenden will wissen, was los ist, und alle Nachfragen laufen bei Andreas zusammen. Bis er schließlich die Ursache findet und beheben kann, liegen seine durch den monatelangen Stress und Schlafmangel ohnehin schon strapazierten Nerven blank. Endlich spürt er selbst: Jetzt hat er es übertrieben. »Irgendwie ist es mir trotzdem gelungen, den ganzen Tag über den souveränen Gastgeber zu spielen«, erzählt er. Aber als Andreas dann am Ende der Veranstaltung von der ­Bereichsleiterin das Feedback bekommt, das sei die bisher beste Wirtschaftsmesse gewesen, gibt ihm das den Rest. Wie in Trance bedankt er sich für die Rück­meldung und schafft es gerade noch auf die Mitarbeitenden-­Toilette, bevor er zusammenbricht. 

Auf Autopilot in die Depression

Die nächsten Stunden und Tage bringt ­Andreas auf Autopilot hinter sich. Emotional ist er im Sand und zieht sich schließlich mehr und mehr von ­seinem Umfeld zurück. Immer tiefer versinkt er in ­seiner gedrückten ­Stimmung und schließlich in einer Erschöpfungsde­pression. »Mir war damals einfach alles egal«, erinnert er sich. Obwohl er sonst ein sehr offener und sozialer Typ ist und sich jetzt kaum noch blicken lässt, fällt in seinem Freundes­kreis niemandem etwas auf. »Wenn ich mal rausgegangen bin, habe ich offenbar eine sehr überzeugende Show abgezogen. Sogar meine besten Freunde haben nicht mitbekommen, wie es mir geht«, sagt er rückblickend. Darüber zu sprechen, und damit ­Schwäche zu zeigen, kommt für Andreas zu dieser Zeit nicht in Frage. Auch ärztliche Unterstützung holt er sich keine. »Ich dachte mir, ich bin halt gerade nicht so gut drauf. Aber ich wäre selbst nie auf die Idee gekommen, dass ich Depressionen haben könnte«, erzählt er. 

Ich dachte mir, ich bin halt gerade nicht so gut drauf. Aber ich wäre selbst nie auf die Idee gekommen, dass ich Depressionen haben könnte.

Andreas Wassner

Ein Weckruf in letzter Minute

Nach zweieinhalb Jahren schwerer Depressionen kommt Andreas eines Abends ein Gedanke, der ihm wie eine Erlösung erscheint: Er wird sich umbringen. »Wenn man noch nie in so einer Situation war, kann man sich das gar nicht vorstellen«, sagt er, als würde er sich heute selbst darüber wundern. »Aber damals schien das für mich die perfekte Lösung zu sein.« Bevor er jedoch sein Vorhaben in die Tat umsetzt, kommt ihm ein Gedanke, der sich als lebensrettend herausstellen sollte: »Gibt es irgendeinen Grund, es nicht zu tun? Das rück­gängig zu machen, wird nämlich schwer.« Über eine halbe ­Stunde – die längsten dreißig Minuten seines Lebens – dauert es, bis er eine Entscheidung fällt. Er muss daran ­denken, was es für ein Gefühl ist, Menschen durch Suizid zu verlieren, eine Erfahrung, die er in seinem Leben gleich mehrfach machen musste. »Das wollte ich ­meiner ­Familie und meinen Freund:innen nicht ­antun«, sagt er. Ausgestanden ist es damit aber noch nicht. Am nächsten Morgen hat Andreas zwar das Gefühl, die Lage im Griff zu haben, doch am Abend findet er sich in derselben ­Situation wieder. Nun bekommt er es mit der Angst zu tun. Er ruft einen Freund an, bei dem er übers Wochenende bleiben und mit dem er reden kann. Am Montag geht er schließlich zum Arzt und bekommt ein ­Medikament, das ihm rasch hilft, zu einer gewissen Normalität zurückzukehren. »Das hat mir in Summe das Leben gerettet«, ist er heute überzeugt

Einmal geht noch … 

Sobald er dazu in der Lage ist, beendet Andreas sein Studium und entschließt sich, der Großstadt den ­Rücken zu kehren. 2002 zieht er zurück nach Vorarlberg. Was er mitnimmt, ist eine neu gewonnene Freude am Leben. »Die Depressionen waren meine härteste Schule und gleichzeitig mein größtes Geschenk«, ist Andreas überzeugt. »Was vor meinem Zusammenbruch für mich selbstverständlich war, ist nun unendlich wertvoll. Das erfüllt mich bis heute mit tiefer Dankbarkeit.« Zurück in Vorarlberg arbeitet Andreas zunächst ein Jahr bei einem Medienunternehmen, bevor er neuerlich einen Anlauf im Eventmarketing nimmt. Er gründet eine eigene Eventagentur und organisiert in Kooperation mit einer größeren Agentur internationale Firmenevents – bis er 2008 kurz vor dem nächsten Burnout steht. Als die ersten Panikattacken auftauchen, zieht der damals 37-Jährige die Reißleine und beschließt, sich einen Jugend­traum zu erfüllen. Er macht seine Agentur zu und heuert im Frühjahr 2009 in Antibes in Südfrankreich als ­Matrose auf der Segelyacht eines Millionärs an. Der nun folgende Weg führt ihn auf mehreren Schiffen durchs Mittelmeer, über den Atlantik und durch die Karibik. Knapp drei Jahre verbringt Andreas auf See, das letzte Jahr als Kapitän. Erst die Liebe sorgt dafür, dass er der See den Rücken kehrt und schließlich in Beschling vor Anker geht.

Eine Rückkehr und ein Ausbruch

Nach dieser langen Auszeit gestaltet es sich schwierig, einen Job zu finden. Andreas sucht monatelang, jedoch ohne Erfolg. »Die Zeit auf See hat mir einen Aussteiger-Stempel aufgedrückt«, ist seine Vermutung. Die Situation wird immer belastender, ­zumal Andreas als vormals Selbstständiger keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld hat. Zu wachsender Ungeduld kommen Existenzängste, und schließlich steigt der Druck in ihm so weit, dass Anfang 2012 Multiple Sklerose ausbricht. Die Diagnose hatte Andreas bereits 2003 als Zufalls­befund bei einer MR-Untersuchung bekommen. »Damals hieß es, es könne gut sein, dass die Krankheit niemals ausbricht«, erzählt er, »und davon bin ich lange Zeit selbst auch ausgegangen.«

Aufgeben? Kommt nicht in Frage!

Nach zwei akuten Schüben geht die Erkrankung in einen chronischen Verlauf über. Einmal ausgebrochen, ist Multiple Sklerose nach heutigem Stand der ­Medizin (noch) nicht heilbar. Eine schwierige Zeit für Andreas, doch aufgeben kommt nicht in Frage. Auch arbeitslos will er nicht mehr sein. Also nimmt er zwischen­zeitlich einen Job in der Pulverbeschichtung an. Schlussendlich ­gründet er jedoch erneut eine Eventmanagement-Firma, dieses Mal mit sozialem Anspruch. Unter dem Namen »EsMachtSinn« bietet er Teambuilding-Events an, mit denen Unternehmen und ihre Mitarbeitenden gemeinnützige Projekte unterstützen können. Über diesen Weg kommt er mit der Integra in Kontakt. Das soziale Unternehmen sucht eine Bereichsleitung für ein Jugend-Ausbildungsprojekt und bietet Andreas die Stelle an. Gemeinsam mit seinem Team baut er in den nächsten drei Jahren das Projekt »AusbildungsFit« auf, bis es auf soliden Beinen steht. Anschließend wechselt er zu ­»Geben für Leben«. Der Verein wird von seiner damaligen Partnerin geleitet und ist gerade dabei, sein Angebot auf ganz Österreich auszuweiten. Andreas ist bereits seit 2011 für die Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich. Doch als es ­Jahre später im Privaten zu einer Trennung kommt, gehen die beiden auch beruflich bald getrennte Wege.

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Schwarz-Weiß-Porträt von Andreas Wassner
© Patricia Keckeis

»Lass uns offen reden«

Seine Erfahrungen teilt Andreas in seinem 2021 ­erschienenen Buch »Lass uns offen reden – Wie uns Krisen zu glücklichen Menschen machen«. Mit seinem ehrlichen Umgang mit Burnout, Depression und seiner Erkrankung möchte er anderen dabei helfen, offen mit Lebenskrisen umzugehen, und Wege aufzeigen, wie es gelingen kann, daraus Kraft und neue Lebensfreude zu schöpfen. Seit 2024 ist Andreas wieder bei der Integra Vorarlberg ­angestellt und kümmert sich dort um die Öffentlichkeitsarbeit. Daneben gibt er Workshops in Persönlichkeitsentwicklung für Lehrlinge, hält ­Vorträge in Unternehmen und an Schulen und engagiert sich ehrenamtlich als Mentor für Jugendliche in ­schwierigen Lebensphasen. Parallel dazu arbeitet er aktuell an seinem vierten Buch. Trotz all der Krisen und Herausforderungen, mit denen der heute 54-Jährige seit seinen dunkelsten Stunden in Wien konfrontiert war – seine Lebensfreude hat er nie wieder verloren: »Es gibt unendlich vieles, wofür ich dankbar sein darf – und ich genieße jede Kleinigkeit davon. Das macht mich zu einem sehr glücklichen Menschen.«. 

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